Reactions in the Council

Reaktionen des Rates1


Eine Woche nach seiner offiziellen Vorstellung erhält die Kommission den Werner-Bericht, über den sie am 16. Oktober 1970 berät. Einen Tag vor seiner Veröffentlichung in Brüssel übergibt Pierre Werner das Dokument in einer Geste politischer Höflichkeit seinen Amtskollegen, den Finanzministern der Mitgliedstaaten.2 Der Stufenplan bleibt ein herausragendes Thema in den politischen Diskussionen dieser Zeit, und Premierminister Werner verteidigt unermüdlich das im Ad-hoc-Ausschuss erzielte Ergebnis des Denkprozesses.3 So am 15. Oktober gegenüber dem zu einem Arbeitsbesuch in Luxemburg weilenden Kommissionspräsidenten Franco Maria Malfatti4 und 24 Stunden später in Paris im Rahmen eines Arbeitsessens, zu dem ihn der Meinungszirkel „Cercle de l’Opinion“5 als Ehrengast einlädt. Vor Politikern und Journalisten erläutert Pierre Werner die Eckpunkte des Berichts, und, wie er darlegt, hat sich der Fachausschuss für einen „Mittelweg“ entschieden, „der den Begriff des stufenweisen Vorangehens bereits in sich birgt und die Parallelität zwischen Wirtschaftsentwicklung und Währungszusammenarbeit bestätigt, der sich ab einem fortgeschritteneren Stadium die politische Zusammenarbeit anschließt“.6 „Es scheint mir das Verdienst des Berichts zu sein, dass er aus dem Teufelskreis politischer und wirtschaftlicher Vorbedingungen herausführt und einen behutsamen und allmählichen Entwicklungsweg aufzeigt, an dessen Endpunkt die Ziele der bestehenden Verträge in vollem Umfang und sehr viel leichter verwirklicht werden können. Wenn es um die Errichtung eines Wirtschaftssystems wie des gemeinsamen Marktes geht, darf die zentrale Bedeutung von Geld und Kredit auf Dauer nicht aus den Augen verloren werden. In finanzpolitischer Hinsicht dürfen wir nicht versäumen, die Konsequenzen aus einer wirtschaftlichen Integration zu ziehen, die die jetzige Stärke unserer Volkswirtschaften ausmacht und sich zweifellos auch in den internationalen Finanzbeziehungen niederschlägt.“7 An dieser Veranstaltung nehmen auch Robert Marjolin und Raymond Barre, beides Mitglieder der Kommission (der erste von 1958 bis 1967, der zweite von 1967 bis 1973), teil. Als Vizepräsident Barre das Wort ergreift, ist er sehr zurückhaltend und verweist darauf, dass die Kommission bei der Stellungnahme zum Bericht dem Ministerrat den Vorrang lassen müsse. Er äußert die Hoffnung, dass „auch wenn es gut ist, bis Jahresende über einen Stufenplan zu verfügen, der die Leitlinien auf dem Weg hin zu einer Wirtschafts- und Währungsunion absteckt, gleichwohl die Glaubwürdigkeit des Unterfangens sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gemeinschaft von den konkreten Entscheidungen der nächsten Monate abhängt. Diese müssen vom Willen unserer Regierungen zeugen, Schritt für Schritt eine multinationale Struktur zu schaffen, die wirtschafts-, währungs- und finanzpolitisch gut organisiert ist und sich deutlich nach außen abgrenzt. Wir können ein solches Ergebnis in diesem Jahrzehnt erreichen, sofern wir auf die wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Bedingungen in der Gemeinschaft Rücksicht nehmen“.8


Der von den Staats- bzw. Regierungschefs festgelegte Zeitplan sieht vor, dass der Ministerrat noch vor Ende 1970 eine Entscheidung über die Umsetzung der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion trifft9, die mit dem 1. Januar 1971 in Kraft treten soll. Zu diesem Zweck legt die Kommission dem Ministerrat am 29. Oktober 1970 eigene, vom Werner-Bericht beeinflusste Vorschläge sowie auch zwei Entschließungsentwürfe vor10. Die Reaktionen sind zahlreich und vielfältig. Vor allem nehmen die nationalen Regierungen Stellung zu den verschiedenen Zielen, Handlungsinstrumenten und zeitlichen Bezugspunkten, die im Werner-Bericht dargestellt sind.11 Dann gibt es Reaktionen – sowohl von Regierungen als auch von verschiedenen Fachausschüssen –, die mit den deutlichen Unterschieden zwischen dem im Ad-hoc-Ausschuss erarbeiteten Plan und den Vorschlägen der Kommission zu tun haben.12 Auch das Europäische Parlament meldet sich über seine Fachausschüsse, in den Fraktionen13 und in den Plenarsitzungen zu Wort.

Am 26. und 27. Oktober 1970 tritt der Rat aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Dimension des Themas zu einer Tagung in der Zusammensetzung der Wirtschafts- und Finanzminister sowie der Minister für auswärtige Angelegenheiten zusammen.14 Nach einer ersten Runde, die der Rat der Außenminister dem Stufenplan widmet15, versuchen die Finanzminister, sich im Rahmen einer für den 9. November 1970 vorgesehenen informellen Tagung16 eingehender mit diesem Dokument auseinanderzusetzen. Angesichts der Reaktionen insbesondere der französischen Regierung bereitet Pierre Werner sie mit Sorgfalt und Bedacht vor. „[…] Die besonders von meinen Kollegen Snoy, Schiller und Möller gewünschte Tagung wurde zunächst vertagt, dann abgesagt, als Giscard d’Estaing, der meine Arbeiten sehr unterstützte, mich informierte, dass er nicht persönlich zugegen sein könne. In der Zwischenzeit hatte sich die Kommission mit dem Problem befasst. Man war der Meinung, dass die weitere Behandlung des Berichts von nun an auf der Ebene der offiziellen Beziehungen zwischen ihr und dem Ministerrat erfolgen solle.17


Am 13. November bestätigt die Regierung der Französischen Republik, dass sie an den Zielen des Haager Schlusskommuniqués zur Wirtschafts- und Währungsunion festhält, es aber ablehnt, konkrete Fristen festzulegen und das institutionelle Problem der Gemeinschaft von Grund auf anzugehen. Damit ist die Richtung der politischen Verhandlungen vorgegeben. Der am 23. November 1970 zusammengetretene Ministerrat18 beschließt, die nächste (und in diesem Jahr wahrscheinlich letzte) Tagung am 14. Dezember abzuhalten. Vor diesem Hintergrund erteilt er dem Ausschuss der ständigen Vertreter (AStV)19 den Auftrag, basierend auf den Vorschlägen der Kommission20 den Text der Entwürfe von Beschlüssen des Rates zur Wirtschafts- und Währungsunion vorzubereiten21. Der AStV tagt am 2. und 10. Dezember, um mit Unterstützung der Fachgruppe „Wirtschafts- und Finanzfragen“ sowohl die Grundsätze der von der Kommission in ihrem Memorandum vom 29. Oktober22 vorgeschlagenen Ratsentschließungen als auch Detailfragen zu analysieren. Im Ergebnis zeigt sich, dass es erforderlich ist, einen neuen Entwurf einer Entschließung, begleitet von zwei Vorschlägen für Beschlüsse (nach dem Vorbild der Kommissionsvorschläge), auszuarbeiten.


Nach mehreren Vermittlungsverfahren, in denen die französische Delegation jedes Mal dabei ist (um sich den anderen entgegenzustellen), können die ständigen Vertreter in einer Vielzahl von Themen Übereinstimmung erzielen.23 Während die Vorschläge der Kommission einstimmig als Arbeitsgrundlage anerkannt werden, kommen die Delegationen überein, sie in einigen Punkten durch bestimmte Elemente des Werner-Berichts zu verstärken. Die Definition der dreijährigen ersten Stufe muss klar und eindeutig sein und auf dem Grundsatz der Unumkehrbarkeit der Wirtschafts- und Währungsunion beruhen. Fünf Delegationen erklären unmissverständlich, dass diese erste Stufe nicht dem Selbstzweck dient, sondern untrennbar mit dem Gesamtprozess der Wirtschafts- und Währungsintegration verbunden ist, weshalb der künftige Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion von Anfang an als verbindlich und unumkehrbar definiert werden muss. Die französische Delegation verlangt, die Ziele nur in großen Zügen zu umreißen, und hält es für verfrüht, schon jetzt einen konkreten Zeitpunkt festzulegen, bis wann das Endergebnis erreicht sein soll. In der Zeitfrage stimmen der französische und der deutsche Standpunkt überein, paradoxerweise jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Die Franzosen wollen ein Minimum an Verbindlichkeit, während die Deutschen zu Stringenz mit der notwendigen Flexibilität mahnen.24 Es kommt der Gedanke auf, der Rat möge einen Stufenplan der Wirtschafts- und Währungsunion aufstellen. Diesem Vorschlag stehen zwei Ansätze gegenüber. Fünf Partner einigen sich darauf, im Verlauf von zehn Jahren stufenweise eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen, deren erste Stufe am 1. Januar 1971 beginnt. Die französische Delegation will festgelegt sehen, dass die WWU vor dem 1. Januar 1980 verwirklicht wird. Auch das Verfahren des Übergangs von der ersten zur nächsten Stufe ruft Diskussionen hervor. Ebenso wie die Kommission sind fünf Delegationen (Frankreich ausgenommen) der Ansicht, dass vor dem Auslaufen der ersten Stufe unbedingt eine Bewertung des Erreichten erforderlich ist. Auf dieser Grundlage sollen geeignete Maßnahmen für die schrittweise und umfassende Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ergriffen werden.25 Die Parallelität von Wirtschaftsunion und Währungsunion wird von allen Delegationen unterstützt, und Italien besteht darauf, den Begriff „garantierte Parallelität“ aufzunehmen.26


Alle Delegationen stimmen darin überein, dass die Verwaltung der Wirtschafts- und Währungsunion unausweichlich damit einhergeht, dass Entscheidungsbefugnisse von den nationalen auf die gemeinschaftlichen Instanzen übertragen werden. Allen ist klar, dass es sich dabei um kein „unbestimmtes Entscheidungszentrum, sondern um ein Entscheidungszentrum auf Gemeinschaftsebene“ handelt. Fünf Delegationen halten dieses sogar für zwingend, während die französische Delegation sich darauf beschränkt, es nicht auszuschließen. Allerdings erklären sich die Franzosen außerstande, auch nur im Geringsten auf die Gestalt der zukünftigen institutionellen Mechanismen eingehen zu können, da die Aufteilung der wirtschafts- und währungspolitischen Zuständigkeit zwischen der Gemeinschaftsebene und der nationalen Ebene noch nicht feststehe. Die anderen Delegationen widersprechen diesem Ansatz nicht, stehen jedoch dem Grundsatz, für die Endphase bereits jetzt eine bestimmte Zahl von Entscheidungen und Verfahren festzulegen, die auf die Gemeinschaftsebene verlagert werden sollen, aufgeschlossener gegenüber. Die sechs Partner einigen sich, „die Befugnisse, die in der letzten Stufe auf jeden Fall an die Gemeinschaft übergehen sollen“, im Einzelnen zu beschreiben und „die Notwendigkeit einer entsprechenden institutionellen Entwicklung der Gemeinschaft während der verschiedenen Stufen deutlich zu machen“27.


Der Notwendigkeit einer späteren Überarbeitung des Vertrages stimmen fünf Delegationen zu. Sie sprechen sich auch dafür aus, den Vertrag am Ende der ersten Stufe zu überprüfen28 und eine Regierungskonferenz einzuberufen. Die Franzosen widersetzen sich hartnäckig einer solchen Option – auch wenn eine Vertragsänderung sich in Zukunft als unerlässlich erweisen kann – und verlangen ausdrücklich, „dieses Problem aus der Diskussion auszuklammern“29.


Ein weiterer Gegensatz zwischen Frankreich und seinen fünf Partnern: Letztere halten die Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments für unerlässlich, um die Rolle dieser Institution als demokratisches Kontrollorgan zu stärken. So sprechen sie auch eine Kompetenzverlagerung von den nationalen Parlamenten auf das Europäische Parlament sowie eine allgemeine und direkte Wahl dieses Organs an. Die Franzosen stellen sich dem ein weiteres Mal mit dem Hinweis entgegen, dass eine solche Verlagerung ein Ungleichgewicht in den Gemeinschaften mit sich bringe.30


Die deutsche Delegation lenkt die Aufmerksamkeit auf die wichtige Rolle der Zentralbanken beim Aufbau der Wirtschafts- und Währungsunion. Die beste Inspirationsquelle für ein solches Gremium sei das Federal Reserve Board, eine Einrichtung also, die wie die Bundesbank die notwendige Unabhängigkeit genießt und verpflichtet ist, in Bezug auf die Wirtschafts- und Währungsunion die gleichen Ziele zu verfolgen wie die Gemeinschaftsorgane.


Dass der von der Kommission vorgeschlagene Entwurf einer Entschließung allzu sehr auf die Steuerharmonisierung zielt, behagt den Franzosen nicht. Die Deutschen hingegen sind mit der Laxheit der Vorschläge31 unzufrieden und drängen darauf, den Text des Werner-Plans wortwörtlich beizubehalten.


Hinsichtlich der sektorbezogenen Politik sind in diesem Zusammenhang zwei Bemerkungen wichtig. Die erste stammt von der italienischen Delegation, die im Interesse des Abbaus struktureller und regionaler Unterschiede eine Konzertierung jener sektorbezogenen Politiken der Mitgliedstaaten fordert, die Einfluss auf die Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft haben. Die zweite Bemerkung kommt von der deutschen Delegation, die den Entschließungsentwurf um die Notwendigkeit „einer Konvergenz der Sozialpolitik“ zu ergänzen verlangt.


Am 14. und 15. Dezember treffen sich die Außenminister und die Wirtschafts- und Finanzminister der sechs Mitgliedstaaten, unterstützt vor allem von den Vorsitzenden der für die Wirtschafts- und Währungspolitik zuständigen Fachausschüsse zur Ratstagung. Am ersten Tag hat der deutsche Chefdiplomat Walter Scheel32 den Vorsitz, am nächsten Tag Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller. Deutschland hat im zweiten Halbjahr 1970 die Ratspräsidentschaft inne. Im Sinne seiner Beschlüsse vom 23. November 1970 will der Rat auf dieser Tagung die politische Einigung erzielen, die für die Entscheidungen zur Verwirklichung der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion nötig ist. Im Verlauf der Diskussionen spitzen sich die Widersprüche zu.33 Die bis spät in die Nacht andauernden Debatten drehen sich darum, welchen Charakter und welche Befugnisse die Entscheidungsorgane auf einer späteren oder der letzten Stufe haben sollen. Frankreich weist jedwede Idee einer supranationalen institutionellen Struktur zurück. Die Niederlande versuchen, eine Verknüpfung mit den britischen Beitrittsverhandlungen herzustellen.34 Deutschland wiederum äußert Vorbehalte gegen die Festlegung von Finanzierungsklauseln, solange keine greifbaren Ergebnisse hinsichtlich der Abstimmung der Politiken vorliegen. Der mehr als zwölf Stunden dauernde letzte Teil der Tagung lässt keinen Zweifel mehr daran, dass eine politische Einigung nicht gefunden werden kann. Um zu retten, was zu retten ist, wird eine kleine hochrangige Gruppe unter dem Vorsitz von Karl Schiller (ihr gehört auch Raymond Barre, Vizepräsident der Kommission, an) beauftragt, ausgehend von den Debatten eines der sensibelsten Kapitel abzufassen, die den Ministern vorliegen, nämlich die Übertragung von Befugnissen von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft.35 Die Aussicht, möglicherweise auch nach Jahresende noch keinen Weg aus der Sackgasse gefunden zu haben, führt zu dem Vorschlag, am 31. Dezember um Mitternacht symbolisch die Uhren anzuhalten, um den politischen Willen des Rates zu demonstrieren, in der Sache voranzukommen. Deutschland wird aufgefordert, den Vorsitz in den Verhandlungen nach dem 31. Dezember weiterzuführen, doch Walter Scheel lehnt ab. Er verweist darauf, dass die Fortsetzung der deutschen Ratspräsidentschaft technisch nicht möglich sei36, tatsächlich jedoch fehlte es wohl an der Bereitschaft, vor Ende des Jahres eine weitere Tagung abzuhalten37. Am 1. Januar 1971 übernimmt Frankreich die Zügel des halbjährigen Ratsvorsitzes, sodass es ihm obliegt, die Tagesordnungen für die nächsten Ratstagungen entsprechend den eigenen Prioritäten festzulegen. Dabei ist die Wirtschafts- und Währungsunion für Paris kein dringliches Thema. Die Haltung der deutschen Minister gibt zu vielen Fragen Anlass, umso mehr als diese plötzliche Zurückhaltung ihrem anfänglichen persönlichen Einsatz zugunsten des Stufenplans widerspricht. Mit dieser höchst politischen Geste signalisiert der deutsche Ratsvorsitz, dass die Verantwortung nunmehr bei denen liegt, die das Stocken der Verhandlungen verursacht haben. Vor der Presse erklärt Karl Schiller, dass die große Mehrheit der Mitgliedstaaten für eine schnelle Annahme des Stufenplans war, um den Beschlüssen von Den Haag zu entsprechen, „aber andere sind anderer Ansicht, berufen sich auf andere Kriterien und bringen Vorbedingungen ins Spiel. […] Der Geist von Den Haag wurde nicht immer geachtet“38. Der Abschluss der Debatten über die Wirtschafts- und Währungsunion muss weiter warten. Deshalb wird der AStV beauftragt, seine Arbeit fortzusetzen.


Auf der Ratstagung von 14. und 15. Dezember hält sich Pierre Werner mit Redebeiträgen bewusst zurück. Dennoch gibt der Werner-Bericht vor allem in seiner abschließenden Fassung vom 8. Oktober 1970 Anlass zu zahlreichen Diskussionen. Die Vorschläge der Kommission und damit alle Dokumente, über die auf der Ratstagung entschieden werden soll, nehmen auf den vorläufigen Bericht Bezug, aber was ist mit dem Schlussbericht? Zwar werden in dem vorläufigen Stufenplan vom 9. Juni 1970 die Leitlinien der Wirtschafts- und Währungsunion dargelegt, der Schlussbericht geht jedoch viel weiter und enthält nicht nur konkrete Angaben zum Inhalt der ersten Stufe des Prozesses, sondern vor allem die Schwerpunkte einer Wirtschafts- und Währungsunion, die innerhalb von zehn Jahren Gestalt annehmen soll. Die institutionelle Gestaltung und die Übertragung von Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft, die im Zwischenbericht in keiner Weise erwähnt sind, gehören zu den unverzichtbaren Maßnahmen, doch für einige Partner und namentlich für Frankreich erweisen sie sich zugleich als äußerst sensible Fragen. Nachdem die Delegationen darauf bestehen, den Werner-Bericht in seiner abschließenden Form zu berücksichtigen, einigt sich der Rat am Ende der Tagung auf folgende, lange verhandelte Textpassage: „gestützt auf die von dieser Gruppe in ihrem Schlussbericht formulierten Vorschläge und unter Billigung der Standpunkte, die in Bezug auf die für die Existenz einer Wirtschafts- und Währungsunion unerlässlichen Elemente und die wirtschaftspolitischen Konsequenzen einer solchen Union zum Ausdruck gebracht wurden …“39. Um eine Stellungnahme gebeten, gibt Pierre Werner vor Journalisten seine Enttäuschung über diese halbe Niederlage zu. Der Rat hält seine Verpflichtung, vor Jahresende die erforderlichen Entscheidungen zu treffen, nicht ein, während der Werner-Ausschuss alles unternimmt, um seine Überlegungen rechtzeitig und so umfassend wie möglich vorzulegen.


Um die festgefahrene Situation zu überwinden, beschließt Pierre Werner zu handeln. Am 29. Dezember schreibt er als Premierminister des Großherzogtums Luxemburg an die fünf Regierungschefs. Er bekundet seine Sorge hinsichtlich des Starts der Wirtschafts- und Währungsunion, äußert aber zugleich sein Vertrauen in eine schnelle und für alle annehmbare Lösung. Bundeskanzler Willy Brandt antwortet vier Wochen später mit einem langen Schreiben40, das die Perspektiven des Ende Januar 1971 nach dem deutsch-französischen Gipfeltreffen präzisierten Stufenplans zum Gegenstand hat41. Den Werner-Bericht als „grundlegendes strategisches Dokument“ wertend, bekräftigt Bundeskanzler Brandt den politischen Willen, den Deutsche und Franzosen auf ihrem fünfzehnten bilateralen Gipfeltreffen erneuert hatten, und geht auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Partnern42 sowie ihre Unfähigkeit ein, zu einer gemeinsamen Position zu gelangen. Er zeigt sich jedoch zuversichtlich über den positiven Ausgang der Debatten.


Auf der Ministerratstagung vom 20. Januar 1971 zeichnet sich eine Annäherung ab, die einige Tage zuvor auf dem im niederländischen Arnhem abgehaltenen Finanzministertreffen vorbereitet worden war. Die ständigen Vertreter setzen ihre Arbeit fort, um eine gemeinsame Position zu finden und sich über den Wortlaut der vom Rat anzunehmenden Entschließung zu einigen. Der AStV trifft sich am 22. und 27. Januar und berät über Fragen, die mit der stufenweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion zusammenhängen. So geschieht es auch am 4. Februar 197143 auf einer Sitzung, die zu einem großen Teil dem Entwurf eines Beschlusses über Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken gewidmet ist44. Die Verhandlungen drehen sich um ein von der belgischen Delegation45 unterbreitetes Dokument, in dem – die Punkte vorangegangener Einigungen zusammenfassend – vorgeschlagen wird, statt einer Entschließung einen Beschluss anzunehmen. Deutsche, Italiener und Luxemburger stimmen diesem Kompromissvorschlag zu. Dieser Abstimmung der Positionen, der sich auch die Kommission anschließt, ist es im Wesentlichen zu verdanken, dass die Texte endgültige Gestalt annehmen. Die zunächst zurückhaltend reagierenden Niederländer (die ihren Standpunkt deutlicher berücksichtigt sehen wollen) willigen ebenfalls ein. Nach einigen Änderungen ist auch die Zustimmung der französischen Delegation erreicht. Die wichtigsten Streitpunkte betreffen die Festlegung der Kriterien für den Übergang von der ersten Stufe zu den folgenden Stufen und der Dauer der Übergangsperiode sowie die Verteilung der Befugnisse in der Gemeinschaft und die parlamentarische Kontrolle. Die Beschlüsse zur Steuerproblematik (bei denen es ohne stürmische Debatten nicht abging) gehen auf die Luxemburger zurück, die gemeinsam mit den Belgiern für jene Passagen verantwortlich sind, die sich auf die vor dem 1. Mai 1973 vorzunehmende Bewertung der Fortschritte bei der Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion und die Notwendigkeit eines entsprechenden Zeitplans beziehen.


Auf der Sitzung der ständigen Vertreter vom 4. Februar 1971 nehmen zwei besondere Beschlussvorschläge, die auf das Memorandum der Kommission von Oktober 1970 zurückgehen, konkrete Form an. Der erste betrifft die Verstärkung der Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik. Der zweite ist auf die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken gerichtet. Dieser Plan – für den die Konsultierung des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten den Ausschlag gibt46 – zielt darauf ab, sowohl die politische Verantwortung der Regierungen der Mitgliedstaaten als auch die Unabhängigkeit, die einige Zentralbanken genießen, zu erhalten. Die deutsche Delegation besteht insbesondere darauf, dass die Autonomie der Zentralbanken gewährleistet bleibt, und setzt sich durch. Fünf Delegationen stimmen dem gesamten Text zu, nur die niederländische Delegation hegt Zweifel an der Angemessenheit dieses Akts.


Die 141. Tagung des Ministerrats der Europäischen Gemeinschaften findet am 8. und 9. Februar 1971 unter dem Vorsitz des Außenministers der Französischen Republik, Maurice Schumann, statt. Nach Abschluss der Beratungen bieten ein Schlusskommuniqué und eine gemeinsame Pressekonferenz dem französischen Chefdiplomanten und dem Kommissionspräsidenten Franco Maria Malfatti Gelegenheit zu der lange erwarteten Ankündigung. „Der Rat hat heute einer Entschließung über die stufenweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft zugestimmt. […] Ferner hat der Rat zwei Beschlüsse47 angenommen, die zum einen die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der Mitgliedstaaten und zum anderen die Verstärkung der Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten betreffen“.48


In Erinnerung an diese Ratstagung schreibt Pierre Werner in seinen Memoiren: „Die Einigung gelang dadurch, dass die negative Sicherheitsklausel in eine positive Klausel umgewandelt wurde, die für die Währungsmechanismen eine Dauer von fünf Jahren vorsah und im Fall einer Einigung über den Rest deren Verlängerung garantierte. […] Der Start der Wirtschafts- und Währungsunion gründete sich im Wesentlichen auf die Vorschläge des Berichts, der nicht ohne Mühen zustande gekommen war. Das Wichtigste für mich war in diesem Augenblick, welche Maßnahmen ergriffen werden mussten, um das Spezifische der Gemeinschaftswährung in einem zunehmend turbulenten Währungsumfeld herauszustellen. […] Die Arbeitsgruppe hatte ihre Aufgabe erfüllt. Sie wurde nicht mehr einberufen oder später wiederbelebt. Für mich persönlich begann ein neuer Abschnitt, einhergehend mit vielfachen Bitten, das Konzept der Währungsunion darzulegen und dafür zu werben.“49


Am 22. März 1971 genehmigt der Rat offiziell das Programm zur stufenweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion, das sich auf drei besondere Beschlüsse stützt. Der erste betrifft die Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik und sieht insbesondere drei Jahresprüfungen der Lage in den Mitgliedstaaten vor. Der zweite betrifft die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken auf der Grundlage der Koordinierung der Geld- und Kreditpolitik. Der dritte hat den mittelfristigen finanziellen Beistand zum Inhalt. Die Parallelität der zu treffenden Maßnahmen soll erhalten bleiben. Ferner werden die Zentralbanken aufgefordert, ab Juni versuchsweise und halbamtlich die Bandbreiten der Wechselkurse zu verringern.




1 Für die Darstellung des Themas und vor allem die Verknüpfung der vorliegenden Studie mit den verschiedenen Quellen werden die Reaktionen des Rates und die Reaktionen der Mitgliedstaaten auf den Werner-Bericht getrennt behandelt.

Vorbehaltlich anders lautender Angaben ist die Quelle aller in dieser Studie zitierten Dokumente: www.cvce.eu.

2 WERNER, Pierre. Itinéraires luxembourgeois et européens. Evolutions et souvenirs: 1945-1985. 2 Bände. Luxemburg: Éditions Saint-Paul, 1992, Band II, S. 131.

3 Siehe Abschnitt 2 „Einsetzung des Werner-Ausschusses und Verlauf seiner Arbeiten(März-Oktober 1970).

4 Der christdemokratische Politiker und Journalist Franco Maria Malfatti (13. Juni 1927-10. Dezember 1991) war wiederholt Abgeordneter und Minister der Italienischen Republik. Von Juni 1970 bis März 1972 war er Kommissionspräsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Im Jahr 1972 legte er sein Amt nieder, um in demselben Jahr an den italienischen Parlamentswahlen teilzunehmen.

5 Stiftung und politischer Debattenkreis, gegründet 1955 von dem französischen Intellektuellen Gabriel Du Chastain (1934-1981). Der entschieden für das europäische Aufbauwerk eintretende „Cercle de l’Opinion“ organisiert im Oktober 1970 einen Debattenzyklus mit dem Titel „Ein Monat für Europa“, zu dem zahlreiche Persönlichkeiten eingeladen werden. Unter anderen werden folgende Themen behandelt: „Das Währungseuropa“, „Das politische Europa“, „Europas Finanzen“, „Europa und der Welthandel“. Im November 1970 gibt Gabriel Du Chastain mit den gesammelten Beiträgen aller Redner eine Sonderpublikation unter dem Titel „L’Opinion en 24 heures“ heraus, für die er Baron Ansiaux und den Ausschuss der Präsidenten der Zentralbanken um Unterstützung bittet.

6 Ausführungen von Pierre Werner vor dem „Cercle de l'Opinion“ (Paris, 16. Oktober 1970). Dokumentationsbulletin. Luxemburg: Direktion für Veröffentlichungen, Presse- und Informationsamt, Staatsministerium, 26.10.1970, Nr. 6, Jahrgang 26, S. 3. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

7 Ebenda, S. 4.

8 Ausführungen von Raymond Barre vor dem „Cercle de l’Opinion“(Paris, Freitag, 16. Oktober 1970) anlässlich des Arbeitsessens über „Das Währungseuropa“, S. 3. In: Familienarchiv Pierre Werner, Ref. PW 048. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

9 Als letztmöglicher Tag für die Annahme des Beschlusses wurde der 31. Dezember 1970 festgesetzt. Auf dem Haager Gipfeltreffen war gefordert worden, den Stufenplan „im Laufe des Jahres 1970“ auszuarbeiten. Die Entscheidung, die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zügig einzuführen, wird von der Kommission im zweiten Barre-Plan (KOM(70) 300) befürwortet und auf der Tagung des Rates „Wirtschaft und Finanzen“ vom 8. und 9. Juni bestätigt. In seinen Schlussfolgerungen befindet der Rat: „…der Ausgangspunkt des einzuleitenden Prozesses muss in der Verwirklichung der im Memorandum der Kommission an den Rat vom 12. Februar 1969 vorgeschlagenen Maßnahmen bestehen. Dies erfordert, dass der Rat bis Ende 1970 einen Beschluss […] fasst.“ Siehe EG-Bulletin, August 1970, 8-1970, S. 83.

10 Mitteilung und Vorschläge der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat über die stufenweise Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion KOM(70)1250, 29.10.1970. In Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Anhang C 140 vom 26. November 1970, Beilage zum Bulletin 11/1970. Luxemburg, 11. November 1970, S. 1. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

11 Siehe Abschnitt 4.4 mit der Überschrift „Politische Reaktionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften“.

12 Bei den Meinungen der Regierungen handelt es sich um die Standpunkte der deutschen bzw. der niederländischen Regierung. Von den beratenden Ausschüssen des Rates ist insbesondere der Ausschuss der Präsidenten der Zentralbanken zu nennen, der sich verwundert zeigt, in den von der Kommission an den Rat geleiteten Vorschlägen weder die in seiner Stellungnahme (Bestandteil des Werner-Berichts) aufgeführten Prioritäten noch den beigefügten Zeitplan wiederzufinden. Das lässt sich aus den Protokollen der 44. und 45. Sitzung des Ausschusses der Präsidenten der Zentralbanken der EWG-Staaten, Basel, 8. November 1970 bzw. 12. Dezember 1970, schließen. Ferner sei darauf verwiesen, dass der Ausschuss für mittelfristige Wirtschaftspolitik der EWG, der am 17. Oktober unter dem Vorsitz von Walter Schöllhorn in Brüssel zusammentritt, den Vorentwurf des für den Zeitraum 1971-1975 geltenden dritten Programms für die mittelfristige Wirtschaftspolitik der EWG annimmt, dessen Leitlinien die Kommission im Dezember 1969 vorgelegt hatte. Dieses Programm – dessen Annahme eine der Maßnahmen ist, die während der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion gemäß dem zweiten Barre-Plan vom 4. März 1970 durchzuführen sind – ist eng mit dem Werner-Plan verknüpft, denn es gilt als vereinbart, dass sich der Stufenplan auf allgemeine quantitative Vorgaben stützen muss, die für die gesamte Gemeinschaft gelten und die wesentlichsten Punkte der Wirtschaftsentwicklung betreffen.

13 Gemäß den Dokumenten im Familienarchiv Pierre Werner wird dieser eine Woche vor der ersten Plenarsitzung des Europäischen Parlaments, die dem Werner-Bericht gewidmet und für den 18. November 1970 vorgesehen ist, zu einer Aussprache (von mehreren Stunden) mit den Leitern der christlich-demokratischen Fraktionen eingeladen. Die meisten Fragen wirft bei den Mitgliedern der parlamentarischen Versammlung die institutionelle Gestaltung der Wirtschafts- und Währungseinheit auf.

14 Entsprechend der internen Verteilung der Befugnisse zwischen den Ratsformationen Wirtschaft und Finanzen und Auswärtige Angelegenheiten (Artikel 145 EWG-Vertrag) wird diese Ratstagung unter dem Vorsitz des deutschen Finanzministers Alexander Möller eröffnet, anschließend geht der Vorsitz an seinen Amtskollegen für auswärtige Angelegenheiten Walter Scheel über.

15 Am 26. Oktober 1970 tagt in Luxemburg der Ministerrat „Auswärtige Angelegenheiten“, um offiziell über den Werner-Bericht zu beraten. Als Premierminister des Großherzogtums begrüßt Pierre Werner die Außenminister der sechs Staaten und leitet die Beratungen, auf denen er als Vorsitzender des Ad-hoc-Ausschusses eine erläuternde Zusammenfassung des Kerngehalts gibt. In der Mitteilung, die nach Abschluss der Tagung an die Presse geht, heißt es: „[…] der Rat spricht Herrn Werner sowie allen, die zu den Arbeiten der von ihm geleiteten Gruppe ihren Beitrag geleistet haben, seinen großen Dank für die Qualität des Berichts aus, der durch das Verdienst dieser Gruppe zügig ausgearbeitet und vorgestellt werden konnte“. (Siehe Pressemitteilung, Luxemburg, 27. Oktober 1970, 1946/70 ‚AG 327‘. Europäische Gemeinschaften, Generalsekretariat. In: Familienarchiv Pierre Werner). In seinen Memoiren erinnert sich Pierre Werner, „dass mich der Ratsvorsitzende, Minister Scheel, beglückwünschte und mir herzlich dankte, wie übrigens auch die Finanzminister Snoy und Möller (BRD) sowie Colombos Staatssekretär Pedini. Der französische Minister Schumann äußerte sich zurückhaltender. Der niederländische Vertreter schloss sich an, beklagte aber, dass ich mit Zustimmung meiner Kollegen für den 9. November eine informelle Tagung der Finanzminister anberaumt hatte. […] Maurice Schumann nahm mich beiseite und unterrichtete mich über die unterschiedlichen Reaktionen in der französischen Regierung.“ Siehe auch Telegramm der Ständigen Vertretung Italiens bei der EWG an das italienische Außenministerium über die Vorstellung des Werner-Berichts auf der Tagung des Ministerrats der EG und über einige Stellungnahmen zu diesem Thema (Brüssel, 27. Oktober 1970). Quelle: Ministero degli Affari Esteri, Archivio Storico Diplomatico Italiano, Telegramma in arrivo, Nr. 45319/27.10.1970, Bd. 34/1970 (Telegramma ordinario. In arivo. Economia/Politica/Stampa.).

16 Nachdem sich der Ministerrat auf seiner Tagung am 26. und 27. Oktober offiziell mit dem Werner-Bericht befasst hatte, beschließt er für seine Sitzung am 23. November eine inhaltliche Debatte zum Bericht.

17 WERNER, Pierre. Itinéraires. Bd. II, S. 131.

18 Siehe: Telegramm der Ständigen Vertretung Italiens bei der EWG an das italienische Außenministerium zu den vom Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller an die ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten gerichteten Schlussfolgerungen (Brüssel, 23. November 1970). Quelle: Ministero degli Affari Esteri, Archivio Storico Diplomatico Italiano, Telegramma in arrivo, Nr. 49608/23.11.1970, Bd. 29/1970 (Telegramma ordinario. In arivo. Economia/Politica.).

19 Der Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV) ist das Gremium, dem die Vorbereitung der Arbeiten des Rates obliegt. Diese Querschnittsaufgabe erstreckt sich auf alle Zusammensetzungen des Rates mit Ausnahme des Rates „Landwirtschaft“, dessen Sitzungen traditionell im Wesentlichen vom Fachausschuss Landwirtschaft vorbereitet werden. Er entsteht faktisch bereits zusammen mit den Gemeinschaften und wird mit Artikel 5 des sog. Brüsseler Fusionsvertrags vom 8. April 1965 in das Primärrecht aufgenommen. Der AStV besteht aus je einem Vertreter der Mitgliedstaaten (zumeist einem hohen Beamten des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten im Rang eines Botschafters). Dieser Vertreter ist das Bindeglied zwischen den Organen der Gemeinschaften und seiner Regierung. Zusammen mit seinen Amtskollegen aus den anderen Staaten ist er in die Tätigkeit der Gemeinschaften eingebunden, indem er sich am Verfahren zur Annahme der vom Rat getroffenen Maßnahmen beteiligt. Der AStV berät über alle auf die Tagesordnung zu setzenden Punkte, bevor diese den Ministern zur Prüfung vorgelegt werden. Wird im AStV Einstimmigkeit erzielt, verzichten die Minister im Allgemeinen auf eine Diskussion und ratifizieren lediglich das erreichte Ergebnis. Kann keine Einstimmigkeit erzielt werden, kommen die Minister zur Aussprache zusammen. Durch die Tätigkeit des AStV wird deutlich, wo es zwischen den verschiedenen Kräften zu Zustimmung oder Ablehnung kommt und welche unterschiedlichen Lösungen gangbar sind. Der Rat (Ministertreffen) kann sich von Anfang an darauf konzentrieren, die notwendigen politischen Kompromisse auszuarbeiten. Seit 1970 wird der AStV durch Fachausschüsse ergänzt (politischer Ausschuss, Fachgruppe für die währungspolitische Koordinierung usw.). Sie bestehen aus Vertretern der für das jeweilige Thema zuständigen Fachministerien und erstatten anstelle des AStV über die fachspezifischen Themen Bericht.

20 Der AStV bereitet die Ratstagung möglicherweise in Zusammenarbeit mit anderen hochrangigen Beamten vor. Im Wortlaut der Entschließung des Rates wird, ohne diese zu nennen, der Währungsausschuss erwähnt, der anstelle des AStV allgemein mit der Diskussion und Vorbereitung der Texte zu Finanz- und Währungsfragen betraut ist.

21 Stufenweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft. Dok. R/2247/70 (Fin 446) + Korr. 1 und R/2106/70+ Korr. Brüssel, 23.11.1970. Europäische Gemeinschaften. Der Rat. Historische Archive des Rates der EG. Siehe auch Telegramm der Ständigen Vertretung Italiens bei der EWG an das italienische Außenministerium über die Tagung des Ministerrats der EG zu den ersten Diskussionen über den Werner-Bericht (Brüssel, 25. November 1970). Quelle: Ministero degli Affari Esteri, Archivio Storico Diplomatico Italiano, Telegramma in arrivo, Nr. 49967/25.11.1970, Bd. 33/1970 (Telegramma ordinario. In arivo. Economia/Politica.).

22 Mitteilung und Vorschläge der Kommission an den Rat über die stufenweise Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, KOM(70)1250, 29.10.1970, In: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. C 140 vom 26. November 1970, Beilage zum Bulletin 11/1970. Luxemburg, 11. November 1970, S. 1.

23 Siehe Vermerk an die Mitglieder der Kommission, Sec(70) 4408, Geheim, Punkt 7B, OJ, 146. Brüssel, 5. Dezember 1970. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Generalsekretariat. Historische Archive des Rates der EG.

24 Die deutsche Delegation unterstreicht das doppelte Kriterium von Stringenz und Flexibilität. Die Delegationen Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs betonen die Notwendigkeit, ein konkretes Datum für die Vollendung des gesamten Vorhabens festzulegen, das nach Auffassung der deutschen Delegation in dem Ausdruck „im Laufe des kommenden Jahrzehnts“ enthalten sein kann. Siehe Protokoll der 579. Sitzung des Ausschusses der Ständigen Vertreter. Brüssel, 2.12.1970. Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Historische Archive des Rates der EG.

25 Siehe Entwurf der einleitenden Bemerkungen des Vorsitzenden. Kommission der Europäischen Gemeinschaften. GD II „Wirtschaft und Finanzen“, Brüssel, 10. Dezember 1970. Historische Archive der Europäischen Kommission.

26 Diese Formulierung stammt vom italienischen Finanzminister Emilio Colombo, der sie im Zusammenhang mit der Debatte über den Zwischenbericht des Werner-Ausschusses auf der Ratstagung der Finanzminister in Venedig (25. Mai 1970) vorschlägt. Danach wird sie in das Schlusskommuniqué der Brüsseler Ratstagung vom 8.-9. Juni 1970 übernommen.

27 Siehe Fragen zur stufenweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft. Arbeitsdokument T/37/71. Dok. R/2106/70 (Fin 427) + Korr. 1, R/2247/70 (Fin 446) + Korr. 1 und R/2687/70 (Fin 553). Europäische Gemeinschaften. Der Rat, Brüssel, 25.01.1971. Historische Archive des Rates der EG.

28 Auf der Grundlage von Artikel 236. In diesem Artikel des Vertrages über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Sechster Teil, Allgemeine und Schlussbestimmungen) heißt es: „Die Regierung jedes Mitgliedstaates oder die Kommission kann dem Rat Entwürfe zur Änderung dieses Vertrages vorlegen. Gibt der Rat nach Anhörung der Versammlung und gegebenenfalls der Kommission eine Stellungnahme zugunsten des Zusammentritts von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten ab, so wird diese vom Präsidenten des Rates einberufen, um die an diesem Vertrag vorzunehmenden Änderung zu vereinbaren. Die Änderungen treten in Kraft, nachdem sie von allen Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften ratifiziert worden sind“.

29 Protokoll der 579. Sitzung des Ausschusses der Ständigen Vertreter. Brüssel, 2.12.1970, S. 3. Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Historische Archive des Rates der EWG.

30 So führt die französische Delegation die Tatsache ins Feld, dass Entscheidungen über Währungsfragen in Frankreich nicht zu den Befugnissen des Parlaments gehören. Einige Delegationen erklären, dass dieser Einwand, mag er auch für den (beschränkten) Bereich der Währungspolitik gelten, gewiss nicht auf Beschlüsse auf dem Gebiet der Wirtschaft, der wirtschaftspolitischen Leitlinien, des Haushaltsplans usw. anzuwenden ist, soweit diese Maßnahmen für die Konjunktur von Bedeutung sind.

31 Die Vorschläge der Kommission zielen nicht auf eine vollständige Harmonisierung der direkten und indirekten Steuern ab, vielmehr soll sich die Harmonisierung auf das für ein einwandfreies Funktionieren der zukünftigen Wirtschafts- und Währungsunion notwendige Maß beschränken. Siehe dazu die Darlegung der steuerlichen Aspekte einer WWU von Hans von der Groeben auf der Ratstagung am 29. und 30. Mai 1970: Kommissionsdokument vom 27. Februar 1970 (Barre & von der Groeben) mit einigen Orientierungen zum Stufenplan. (Dokument am 10. Oktober 2012 konsultiert).

32 Walter Scheel (geboren am 9. Juli 1919), deutscher Politiker, Ehrenvorsitzender der Freien Demokratischen Partei (FDP). 1961 wird er Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Durch die Annäherung an Willy Brandt und die Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 wird er Vizekanzler und Bundesaußenminister. Am 15. Mai 1974 wird er in das Amt des deutschen Bundespräsidenten gewählt, das er bis zu den Wahlen von 1979 innehat.

33 Siehe Telegramm der Ständigen Vertretung Italiens bei der EWG an das italienische Außenministerium über unterschiedliche Auffassungen im Zusammenhang mit dem Werner-Bericht (Brüssel, 11. Dezember 1970). Quelle: Ministero degli Affari Esteri, Archivio Storico Diplomatico Italiano, Telegramma in arrivo, Nr. 52589/11.12.1970, Bd. 29/1970 (Telegramma ordinario. In arivo. Economia/Politica.). Siehe auch Telegramm der Botschaft Italiens in Brüssel an das italienische Außenministerium zu den zwischen Frankreich und Deutschland bestehenden Differenzen über die Umsetzung des Werner-Berichts (Brüssel, 17. Dezember 1970). Quelle: Ministero degli Affari Esteri, Archivio Storico Diplomatico Italiano, Telegramma in arrivo, Nr. 53464/17.12.1970, Bd. 29/1970 (Telegramma ordinario. In arivo. Economia/Politica/Stampa.). Siehe ebenfalls Telegramm der Ständigen Vertretung Italiens bei der EWG an das italienische Außenministerium über die Reaktion des deutschen Außenministers auf die unterschiedlichen Auffassungen Deutschlands und Frankreichs hinsichtlich der Umsetzung des Werner-Berichts (Brüssel, 17. Dezember 1970). Quelle: Ministero degli Affari Esteri, Archivio Storico Diplomatico Italiano, Telegramma in arrivo, Nr. 53465/17.12.1970, Bd. 29/1970 (Telegramma ordinario. In arivo. Economia/Politica/Stampa.).

34 Siehe Telegramm der Ständigen Vertretung Italiens bei der EWG an das italienische Außenministerium über den niederländischen Standpunkt zum Stufenplan für die Wirtschafts- und Währungsunion (Brüssel, 3. Dezember 1970). Quelle: Ministero degli Affari Esteri, Archivio Storico Diplomatico Italiano, Telegramma in arrivo, Nr. 51321/03.12.1970, Bd. 29/1970 (Telegramma ordinario. In arivo. Europa politica/Unione economica e monetaria.).

35 Siehe Le plan pour une union économique et monétaire ne sera pas mis en œuvre au début de 1971. Agence Europe, Tägliches Bulletin Nr. 707 (neue Reihe). Brüssel, 15. Dezember 1970.

36 Gemäß der Erklärung von Karl Schiller zum Abschluss der Ministerratstagung. Pressemitteilung. Brüssel, 15. Dezember 1970. In: Familienarchiv Pierre Werner.

37 WERNER, Pierre. Itinéraires. Bd. II, S. 136-137.

38 Ebenda. Erklärung von Karl Schiller. Pressemitteilung. Brüssel, 15. Dezember 1970. Familienarchiv Pierre Werner. Die auf der Tagung von der Kommission vorgelegte (und dem Protokoll der Ratstagung beigefügte) Erklärung ist in demselben Sinn gehalten: „Die Kommission bedauert vor allem, dass der im Haager Kommuniqué festgelegte Zeitplan nicht eingehalten wurde und eine große politische Entscheidung nicht die praktische Krönung erfahren konnte, die möglich gewesen wäre.“ (In EG-Bulletin, Februar 1971, 2-1971, S. 54).

39 Formulierung übernommen aus dem Dokument Stufenweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft. Dok. R/386 f/70 (fin 73). Brüssel, 15.12.1970. Europäische Gemeinschaften. Der Rat, Historische Archive des Rates der EG. Diese Passage wird wortgleich in die Entschließung des Rates und der Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedstaaten vom 22. März 1971 übernommen. In Monetary Committee. Compendium of Community monetary texts, 1974, S. 20.

40 Schreiben von Willy Brandt an Pierre Werner, 1. Februar 1971. In: Familienarchiv Pierre Werner, Ref. PW 048. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

41 Das 15. deutsch-französische Gipfeltreffen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem Präsidenten der Französischen Republik findet am 25. und 26. Januar 1971 in Paris statt. Die schwierigen europäischen Fragen, darunter die Wirtschafts- und Währungsunion, nehmen einen vorrangigen Platz auf der Tagesordnung ein.

42 Willy Brandt erwähnt vor allem die von Präsident Pompidou vorgeschlagene „Vorsichtsklausel“ („clause de prudence“). (Mehr dazu in Abschnitt 4.4 mit der Überschrift „Politische Reaktionen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft“).

43 Siehe Protokoll der 586. Tagung des Ausschusses der Ständigen Vertreter. Europäische Gemeinschaften. Der Rat. Brüssel, 4. Februar 1971. In Historische Archive des Rates der EG.

44 Siehe Fragen zur stufenweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft, Vermerk R/230/71 (Fin 48), Dok. R/2106/70 (Fin 427), R/2247/70 (Fin 2242/70) (ASS 1386). Europäische Gemeinschaften. Der Rat. Brüssel, 5.2.1971. Historische Archive des Rates der EG.

45 Siehe Fragen zur stufenweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft, Anhang T/37/71 zu Arbeitsdokument T/37/71, und Dok. R/2106/70 (Fin 427) + Korr. 1, R/2247/70 (Fin 446) + Korr. 1 und R/2687/70 (Fin 553) Europäische Gemeinschaften. Der Rat. Brüssel, 25.01.1971. Historische Archive des Rates der EG.

46 Siehe Protokoll der 45. Sitzung des Ausschusses der Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Basel, 12. Dezember 1970, Abschnitt II.3, S. 3-7. Familienarchiv Pierre Werner, Ref. PW 048. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

47 Tatsächlich billigt der Rat an diesem Tag neben der allgemeinen Entschließung zur Wirtschafts- und Währungsunion vier weitere Texte. Es handelt sich um die Entscheidung über die Verstärkung der Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik, die Entscheidung über die Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken, die Entscheidung über die Einführung eines Mechanismus für den mittelfristigen finanziellen Beistand. Das vierte Element ist das mittelfristige Wirtschaftsprogramm (1971-1973) der Gemeinschaft. (Bull. EG, April 1970, 4-1970, S. 26-27).

48 Pressemitteilung. Rat der Europäischen Gemeinschaften, Generalsekretariat, GD II Wirtschaft und Finanzen, Ref. 304/71. Brüssel, 09.02.1971, S. 0255-0271. Familienarchiv Pierre Werner.

49 WERNER, Pierre. Itinéraires. Bd. II, S. 136.

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