The Werner Report

Werner-Bericht1


Auf der Grundlage der Redebeiträge, Diskussionen und Aussprachen auf der vorbereitenden Sitzung am 11. Mai 1970 in Luxemburg sowie bei den ersten beiden Arbeitssitzungen (am 20. März in Luxemburg und am 7. April in Brüssel) kann die Werner-Gruppe2 die Hauptschwerpunkte ihres künftigen gemeinsamen Standpunkts festlegen, die zugleich das Gerüst für den Bericht in seinen aufeinanderfolgenden Fassungen und Entwicklungsetappen darstellen.


Bereits auf der Eröffnungssitzung gibt der Vorsitzende Pierre Werner den Mitgliedern der Gruppe einen ersten Überblick über die Debatten zur Währungsintegration und stellt die Vorschläge, die von mehreren Regierungen (Deutschlands, Belgiens und Luxemburgs)3 bzw. der Kommission4 unterbreitet wurden, einander gegenüber. Der Vorsitzende benennt die Aspekte, die er mit Blick auf die Arbeiten zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion für besonders wichtig hält, und ermuntert seine Kollegen, über konkrete Mittel und Wege zur Erreichung des Endziels nachzudenken und diese zur Diskussion zu stellen5. Die Idee der Erarbeitung eines „Stufenplans“ nimmt Gestalt an und die Mitglieder der Gruppe verständigen sich auf die Grundsätze und die thematische Abgrenzung dieses Dokuments.


So entscheidet sich die Werner-Gruppe für einen pragmatischen Ansatz, da ein „abstraktes Herangehen keine geeignete Grundlage bietet, auf der sich ein breites Vertrauen für den Versuch erzielen lässt, die genaue und konkrete Gestalt einer Konstruktion zu umreißen, zu deren charakteristischsten Merkmalen zweifelsohne ihre Komplexität gehören wird“6.


Bei den verschiedenen Plänen mehrerer Mitgliedstaaten und der Kommission zur Währungsintegration handelt es sich um nichts weiter als Entwürfe, Projekte und Absichtserklärungen, doch immerhin sind die Maßnahmen, die für den Zeitraum, über den sich die einzelnen Etappen erstrecken, vorgeschlagen werden, inhaltlich unmissverständlich, auch wenn sie in der Form extrem allgemein gehaltener Hinweise vorgelegt werden. Angesichts dieser Umstände und in dem Bestreben, gemäß dem ihnen erteilten Mandat praktische Lösungen zu entwickeln, beschließen die Mitglieder der Gruppe, eine möglichst kohärente Übersicht über die einzelnen Aspekte dieser Pläne zu erarbeiten und sich sodann um deren Konkretisierung bzw. genauere Darlegung zu bemühen.



Dem Werner-Bericht zugrunde liegende Konzepte


Um die Konturen der Wirtschafts- und Währungsunion im Stufenplan besser aufzeigen zu können, verständigt sich die Werner-Gruppe darauf, eine Reihe grundlegender Ziele festzulegen und sich danach mit der Ermittlung und Konkretisierung der zur ihrer Verwirklichung erforderlichen Bedingungen zu befassen.


Das wesentliche Ziel des Stufenplans besteht darin, „die Verwirklichung eines Raums zu ermöglichen, in dem der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital gewährleistet ist und in dem die Devisentransaktionen der Wirtschaftsbeteiligten weder behindert werden noch Wechselkursrisiken ausgesetzt sind“7. Als ein weiteres wichtiges Ziel wird ein gemeinsames Vorgehen im wirtschaftspolitischen Bereich – von der einfachen Koordinierung über die verstärkte Harmonisierung bis zur gemeinsamen Politik – benannt. Damit soll ein Beitrag zum Zusammenhalt innerhalb des Gefüges und zu dessen nachhaltigem Wachstum bei gleichzeitiger Stabilität geleistet werden. Mit dem Konzept der gemeinsamen Politik entsteht der Begriff der gemeinsamen Risiken und damit die Notwendigkeit gegenseitiger Solidarität8.


Die Wirtschafts- und Währungsunion braucht eine gemeinsame Währung, „auch wenn es für ihren Zusammenhalt – im ersten Stadium – reicht, wenn sie über ein System verfügt, das die unwiderrufliche Festsetzung der Paritätsverhältnisse zwischen den Währungen der Mitgliedstaaten gewährleistet. Sie bedeutet ebenso die Schaffung eines Kapitalmarkts auf europäischer Ebene und ein angemessenes Maß an Steuerharmonisierung.“9 Durch die unwiderrufliche Festsetzung der Paritätsverhältnisse zwischen den Währungen der Mitgliedstaaten wäre jede Ab- oder Aufwertung einer einzelnen Währung ausgeschlossen, während Paritätsänderungen „en bloc“ weiterhin möglich wären. Untermauert werden sollen die Unwiderruflichkeit der Wechselkurse und die Solidarität zwischen den Währungen der Gemeinschaft durch die Währungsreserven der Gemeinschaft, mit denen im Bedarfsfall nach gemeinsam festzulegenden Modalitäten ein zu leistender Ausgleich mit der Außenwelt gedeckt werden könnte. Als einfachste Lösung für die Erreichung dieses Ziel wird ein Europäischer Reservefonds angesehen.


Zugleich verständigt man sich darauf, dass die Gemeinschaft im Bereich der internationalen Währungsbeziehungen als eigenständige Einrichtung auftritt und handelt.


Eine weitere gemeinsame Schlussfolgerung der Werner-Gruppe besteht in der Erkenntnis, dass bestimmte wirtschaftspolitische Entscheidungsbefugnisse, insbesondere im Haushaltsbereich, von der nationalen Ebene auf die Gemeinschaftsebene übertragen werden müssen und es einer währungspolitischen Zentralisierung bedarf.


Ein Aspekt, der bei diesen ersten Beratungen nur gestreift, jedoch später im Zuge der Vertiefung der Arbeiten der Werner-Gruppe ausführlich diskutiert wird, ist die Rolle der Sozialpartner bei der Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion. So wird die Schaffung „einer Gemeinschaftseinrichtung bestehend aus den Sozialpartnern und den für die Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft Verantwortlichen“10 angeregt, die die Sozialpartner eng in die Gestaltung der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik einbeziehen soll. Eine solche Einrichtung sei zur Sicherung einer zufriedenstellenden Entwicklung der Einkünfte und Vermögen unerlässlich und sowohl aus sozialer Sicht als auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den wirtschaftlichen Zielen der Gemeinschaft notwendig.


1 Vorbehaltlich anders lautender Angaben ist die Quelle aller in dieser Studie zitierten Dokumente: www.cvce.eu.

Bei seiner allerersten Veröffentlichung am 8. Oktober 1970 in Luxemburg trug der „Bericht an Rat und Kommission über die stufenweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft zusätzlich den Kurztitel „Werner-Bericht“. In der dem Europäischen Parlament am 29. Oktober 1970 vorgelegten Fassung wurde dieser Kurztitel ebenso weggelassen wie bei späteren Veröffentlichungen dieses Dokuments. Da es sich um einen Stufenplan handelte, wurde der Werner-Bericht in Reden, Presse- und sonstigen Artikeln häufig auch als „Werner-Plan“ bezeichnet, während dieser Titel in offiziellen Veröffentlichungen nie Verwendung fand. Heute sind in der Fachliteratur und im Sprachgebrauch beide Bezeichnungen üblich, doch im Zweifelsfall wird der Bezeichnung „Werner-Bericht“ der Vorrang gegeben. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012.)

2 Nach dem Gipfeltreffen von Den Haag (1.-2. Dezember 1970) und nach der Entscheidung der Staats- und Regierungschefs der Sechs, die Möglichkeiten von Fortschritten auf dem Weg zu einer schrittweisen Wirtschafts- und Währungsunion zu sondieren, wird eine Studiengruppe gebildet. Anfang März 1970 wird Pierre Werner mit dem Vorsitz betraut und die Werner-Gruppe nimmt am 20. März 1970 offiziell ihre Arbeit auf. Im Protokoll der ersten Sitzung wird zwar die Bezeichnung „Expertengruppe“ verwendet, im weiteren Verlauf tauchen aber immer häufiger die Bezeichnungen „Expertenausschuss“ bzw. „Werner-Ausschuss“ auf. Diese beiden Wortverbindungen – „Expertengruppe“/„Expertenausschuss“ – „Werner-Gruppe“/„Werner-Ausschuss“ haben mit der gleichen Bedeutung Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden.

3 Es handelt sich um die Pläne für die währungspolitische Integration Deutschlands (Schiller-Plan, veröffentlicht am 12. Februar 1970), Belgiens (Snoy-Plan, veröffentlicht am 20. Februar 1970) und Luxemburgs (erster Werner-Plan, veröffentlicht am 23. Februar 1970), die zusammen mit dem zweiten Barre-Plan die Basisdokumente des Werner-Ausschusses bilden. (Dokumente eingesehen am 10. Oktober 2012.)

4 Mitteilung der Kommission an den Rat über die Ausarbeitung eines Stufenplans für die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion, veröffentlicht am 4. März 1970 (zweiter Barre-Plan). (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012.)

5 Kapitel 2 „Einsetzung des Werner-Ausschusses und Verlauf seiner Arbeiten (März-Oktober 1970)“.

6 Handschriftliche Aufzeichnungen von Pierre Werner. Familienarchiv Pierre Werner, Ref. PW 048, „Intégration monétaire de l’Europe. Le Plan Werner: 1970“.

7 Entwurf des Protokolls der ersten Sitzung der Ad-hoc-Gruppe „Stufenplan“, 20. März 1970. Europäische Gemeinschaften, Sekretariat der Gruppe „Stufenplan“. Brüssel: 31. März 1970, ORII/22/70-F. Familienarchiv Pierre Werner, Ref. PW 048. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012.)

8 „Bei gravierenden Ungleichgewichten in einem Mitgliedstaat, insbesondere infolge eines schwerwiegenden und unerwarteten Geschehens, könnte einerseits der Mitgliedstaat gezwungen sein, alle erforderlichen Korrekturmaßnahmen zu treffen, und anderseits müsste die gemeinschaftliche Solidarität voll zum Tragen kommen“. Siehe Wortprotokoll der Redebeiträge. Sitzung der Ad-hoc-Gruppe „Stufenplan“ vom 7.4.1970. Brüssel: 9. April 1970. Vertraulich, Ref. ORII/28/70F. Familienarchiv Pierre Werner, Ref. 048.

9 Ebenda.

10 Note zum Stand der Wirtschafts- und Währungsunion nach dem Ende des Stufenplans. Europäische Kommission, Sekretariat der Gruppe „Stufenplan“, OR II/24/70. Brüssel: 3. April 1970. Familienarchiv Pierre Werner, Ref. PW 048. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012.)

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