The first and second Barre Plans

Der erste und der zweite Barre-Plan1


Alarmiert durch das Nachlassen der gemeinschaftlichen Solidarität verfasst die Kommission auf Anregung von Raymond Barre, Vizepräsident der Europäischen Kommission und zuständig für Wirtschaft und Finanzen, ein vertrauliches Dokument, das sie den europäischen Finanzministern auf deren Tagung am 28. Februar 1968 vorlegt2. Ausgehend von dem allerdings weniger ehrgeizigen Aktionsprogramm von 19623 wird in diesem „Memorandum für eine Gemeinschaftsaktion auf währungspolitischem Gebiet“ die Entwicklung engerer währungspolitischer Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten vorgeschlagen. Es sieht insbesondere vor, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, keinerlei Änderung der Wechselkurse ohne vorherige Einigung vorzunehmen, die Bandbreiten der Wechselkurse abzuschaffen sowie ein System des gegenseitigen Währungsbeistands zu entwickeln. Ebenfalls vorgesehen sind die Abstimmung der Positionen innerhalb der internationalen Währungseinrichtungen sowie die Festlegung einer Rechnungseinheit, die bei allen Maßnahmen der Gemeinschaft verwendet werden soll, für die ein gemeinsamer Wertmesser erforderlich ist. Die Vorgehensweise von Barre ist besonnen und pragmatisch. Er möchte nicht zu weit gehen und schließt daher die Einführung einer europäischen Reservewährung aus4. Für die unmittelbare Zukunft sieht das Kommissionsdokument die Durchführung von Studien zu bestimmten Aspekten vor, mit denen die europäische währungspolitische Solidarität verstärkt werden kann.


Die Vorschläge der Kommission werden von Deutschland und den Niederlanden kritisiert, die die Auffassung vertreten, dass ein solches einseitiges währungspolitisches Vorgehen nicht zielführend sei.5 Die Zentralbanker hingegen äußern Zweifel an der Möglichkeit einer intensiveren währungspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der Gemeinschaft, da deren Gebiet zu klein sei und sie nur eine Zollunion, aber keine wirtschaftliche und politische Union darstelle.6


Im Oktober 1968 zeigt sich Raymond Barre skeptisch in Bezug auf die Wirtschafts- und Währungsunion und vertritt einen eher „ökonomistischen“ Standpunkt.7 Vorrang sei einer stärkeren Koordinierung der Wirtschaftspolitik einzuräumen, und die Währungsunion sei die Krönung der Wirtschaftsunion. Vor dem Europäischen Parlament vertritt er die Auffassung, dass eine europäische Behörde gebraucht werde, um den Erfolg der Wirtschafts- und Währungsunion zu gewährleisten.8


Dieses Memorandum führt zu einer Bewusstseinsschärfung bei den Regierungen der Mitgliedstaaten.9 So bekräftigen die EWG-Finanzminister im Schlusskommuniqué ihrer Tagung vom 13. Dezember 1968, dass eine größere Konvergenz ihrer Wirtschaftspolitik ebenso notwendig sei wie die Intensivierung ihrer währungspolitischen Zusammenarbeit.


Die Vorschläge der Kommission ähneln denen, die Pierre Werner einen Monat zuvor in seinem Fünf-Punkte-Aktionsprogramm dargelegt hatte.10 Das luxemburgische Dokument, das einen praktikablen Weg für die europäische währungspolitische Integration aufzeigt, enthält bereits den Grundsatz der vorherigen Konsultation, der in der Folge durch das Erfordernis der Einstimmigkeit sowie das Gebot der Unterlassung jeglicher einseitiger Maßnahmen verstärkt wird. Die währungspolitischen Konsultationen sind den Benelux-Partnern ein besonderes Anliegen. Am 15. Januar 1968 beschließen die Außenminister dieser drei Länder ein gemeinsames Arbeitsprogramm und legen fest, ihre Aktivitäten in der Sechsergemeinschaft, einschließlich der währungspolitischen Zusammenarbeit, künftig untereinander abzustimmen.


Am 12. Februar 1969 legt die Kommission auf Anregung ihres Vizepräsidenten Raymond Barre dem Rat ein Memorandum über die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die Zusammenarbeit in Währungsfragen innerhalb der Gemeinschaft vor11, die darin als eine aus nationalen und gemeinschaftlichen Elementen bestehende neuartige, komplexe Wirtschaftseinheit betrachtet wird. Aufgrund der wachsenden gegenseitigen Abhängigkeit der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten könne die Unvereinbarkeit von Politiken oder Strategien die Zollunion gefährden. In diesem als Barre-Plan bezeichneten Dokument wird eine wachsende Integration der Volkswirtschaften gefordert und auf die Notwendigkeit einer Konvergenz der Wirtschaftspolitik sowie einer währungspolitischen Zusammenarbeit verwiesen. In der Präambel des Memorandums wird auf die vom Rat am 15. April 1964 getroffenen wirtschafts- und währungspolitischen Festlegungen eingegangen12, die seinerzeit zur Schaffung des Ausschusses der Präsidenten der Zentralbanken sowie des Ausschusses für mittelfristige Wirtschaftspolitik geführt hatten. Es wird das Versagen des Mechanismus der Beistandsklausel festgestellt. Des Weiteren wird in dem Plan vorgeschlagen, das gemeinschaftliche Handeln in mehreren Bereichen zu vertiefen. Erstens geht es um die Herstellung einer immer größeren Übereinstimmung zwischen den Grundzügen der mittelfristigen Wirtschaftspolitik (insbesondere im Hinblick auf Produktion, Beschäftigung, Löhne und Zahlungsbilanz). Der zweite Bereich betrifft die Koordinierung der kurzfristigen Wirtschaftspolitik, so dass sich die Volkswirtschaften entsprechend den mittelfristigen Zielen entwickeln können. Es werden obligatorische vorherige Konsultationen zur kurzfristigen Wirtschaftspolitik und ein System von Frühwarnindikatoren vorgeschlagen. Im dritten Bereich geht es um die Einführung von europäischen währungspolitischen Instrumenten. Um wirkliche währungspolitische Solidarität zu gewährleisten, wird ein System des kurzfristigen Währungsbeistands vorgeschlagen, das durch einen mittelfristigen finanziellen Beistand ergänzt werden soll. Der Mechanismus der währungspolitischen Zusammenarbeit soll die Mechanismen der internationalen Währungszusammenarbeit nicht ersetzen, doch ist er so gestaltet, dass er sich leicht in diese einfügen kann.13 Ebenfalls erwogen wird die Möglichkeit der Abschaffung der Bandbreiten zwischen den europäischen Währungen sowie eines abgestimmten Floatings von 1 % gegenüber den Drittländern. Am 17. Juli 1969 bestätigt der Rat die Einführung eines gemeinschaftlichen Systems des kurzfristigen Währungsbeistands.


Der Barre-Plan ist gekennzeichnet durch eine spezielle Verbindung der traditionellen Konzepte Deutschlands und Frankreichs, insbesondere hinsichtlich der Konvergenz der nationalen mittelfristigen Ziele. […] So wird die französisch inspirierte mittelfristige Analyse mit dem deutschen Konzept der wirtschaftlichen Konvergenz verbunden“14. Die in diesem Dokument dargelegten Ideen sind weniger ehrgeizig als die im Februar 1968 in Rom vertretenen. Seinerzeit war die Rede von der Abschaffung der Bandbreiten der Wechselkurse, von einvernehmlichen Verpflichtungen im Falle einer Wechselkursänderung sowie von der Schaffung einer europäischen Rechnungseinheit. Dieses Zurückweichen dürfte auf den mangelnden politischen Willen der Gemeinschaftspartner (insbesondere Frankreichs) sowie die recht unterschiedliche wirtschaftliche Lage in den einzelnen Ländern zurückzuführen sein.


Bereits im Herbst 1967 hatte Pierre Werner auf einer Tagung der Finanzminister darauf verwiesen, wie notwendig es sei, die Schwankungsbreite der Währungen zu überprüfen, ein Beistandsnetz zur Bekämpfung der Spekulation zu schaffen und die Rechnungseinheiten zu vereinheitlichen. Diese Ziele werden in der Folge in den beiden Barre-Plänen wieder aufgegriffen.


Das vom Ministerrat am 17. Juli 1969 bestätigte Memorandum der Kommission wird jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen. Zwei Auffassungen von monetärer Solidarität prallen aufeinander: die der Ökonomisten und die der Monetaristen. Nach Auffassung der Länder mit starker Währung, zu denen in erster Linie Deutschland, aber auch die Niederlande gehören, kommt der Wirtschaftspolitik Priorität zu, deren Koordinierung zu einer Stärkung der schwächeren Volkswirtschaften führen soll, damit diese im Ergebnis weniger auf die währungspolitische Solidarität angewiesen sind. Sie befürworten ebenfalls eine Erweiterung der Kompetenzen der Gemeinschaftsorgane. Für die Länder mit schwacher Währung hingegen, deren Wortführer Frankreich ist, steht die währungspolitische Solidarität an erster Stelle. Die währungspolitische Integration würde ihrer Auffassung nach die wirtschaftliche Integration nach sich ziehen, und die Annäherung der Volkswirtschaften sei nicht die Voraussetzung der Währungsunion, sondern ihr Ergebnis. Weiterhin würde die Aufstellung eines Zeitplans für die Währungsintegration einen positiven Einfluss auf die beteiligten Wirtschaftsakteure ausüben. Die Deutschen bevorzugen also eine systematische, parallele Entwicklung sowie eine Abstimmung der mittelfristigen Politik. Belgien, die Niederlande, Italien und Deutschland verständigen sich auf einen nicht automatisch greifenden kurzfristigen Währungsbeistand. Die Luxemburger vertreten einen ausgewogeneren Standpunkt, während die Zentralbankvertreter starke Bedenken hinsichtlich der währungspolitischen Zusammenarbeit äußern. Die Beneluxländer nehmen einen gemeinsamen Standpunkt ein und wünschen die Aufhebung des Vetos gegen den Beitritt des Vereinigten Königreichs vor jeder Verhandlung über die Weiterführung der europäischen Integration.


Die Kommission möchte, dass noch im Herbst 1969 Maßnahmen ergriffen werden, doch die durch das Floating des Franc und der D-Mark ausgelösten Währungsturbulenzen verhindern die Umsetzung des ersten Barre-Plans. Da sich die sechs Mitgliedstaaten jedoch der Folgen ihres mangelnden Zusammenhalts und der Gefahren der Währungsspekulation für ihre Volkswirtschaften bewusst sind, schlagen sie entschlossen den Weg der währungspolitischen Integration ein und sehen diese als Priorität an.15


Angesichts der neuen Impulse, die von der Gipfelkonferenz16 in den Haag (1. und 2. Dezember 1969) für den Aufbau Europas ausgingen, legt der für Wirtschaft und Finanzen zuständige Vizepräsident der Kommission am 4. März 1970 den „zweiten Barre-Plan“ vor. Dieses weitgehend auf dem ersten Barre-Plan beruhende Dokument sieht ausdrücklich vor, dass die Konvergenz der nationalen Ziele von einer Abstimmung der Wirtschaftspolitik ergänzt wird. Die wirtschaftliche Koordinierung und die währungspolitische Solidarität sind nunmehr eng miteinander verbunden.17 Überdies wird ein zehnjähriger Zeitplan für das Erreichen einer Wirtschafts- und Währungsunion dargelegt, verbunden mit dem Hinweis, dass die erforderlichen Maßnahmen unter Bezugnahme auf den Begriff des gemeinsamen Interesse ergriffen werden müssten, das die nationalen Interessen verbinde und gleichzeitig über deren bloße Aneinanderreihung hinausgehe.18 Auch wenn mit diesem Plan der Versuch unternommen wird, die aus dem unabgestimmten Handeln der Regierungen resultierenden Ungleichgewichte zu überwinden und eine gewisse Koordinierung zu erreichen, so sind darin doch noch nicht die ständigen Instrumente einer gemeinsamen Politik vorgesehen.19


1 Vorbehaltlich anders lautender Angaben ist die Quelle aller in dieser Studie zitierten Dokumente: www.cvce.eu.

2 DU BOIS, Pierre. Histoire de l’Europe monétaire 1945-2005. Euro qui comme Ulysse… Paris: PUF, 2008.

3 Das Aktionsprogramm der EWG-Kommission vom 24. Oktober 1962 (bekannt unter der Bezeichnung „Marjolin-Memorandum“) enthielt den Vorschlag, bis zum Ende der 1960er Jahre von einer Zollunion zu einer Wirtschaftsunion überzugehen und den Wechselkurs der Währungen der Mitgliedstaaten unwiderruflich festzulegen. Auf diesen Bericht folgten keinerlei weitere Schritte, sieht man einmal von der Einrichtung des Ausschusses der Präsidenten der Zentralbanken der Mitgliedstaaten der EWG im Jahre 1964 ab, der zu dem gemäß Artikel 105 Absatz 2 des Vertrags von Rom bestehenden Währungsausschuss hinzukam. Der Ausschuss der Präsidenten der Zentralbanken verfügte ursprünglich über ein sehr begrenztes Mandat, doch ist seine Bedeutung im Laufe der Jahre so weit angewachsen, dass er in den Mittelpunkt der währungspolitischen Zusammenarbeit zwischen den Zentralbanken der Gemeinschaft rückte. In dieser Eigenschaft hat er den Rahmen für die spätere währungspolitische Zusammenarbeit erarbeitet und verwaltet. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

4 „Ich persönlich glaube nicht, dass Interesse daran besteht, den bisherigen Reservewährungen eine neue Reservewährung hinzuzufügen, bei der es sich um eine europäische Reservewährung handelt würde“. Vgl. BARRE, Raymond. L’ordre monétaire européen. In Außenwirtschaft, März 1969, S. 7.

5 SZASZ, André. The Road to European Monetary Union. London: MacMillan Press, 1999, S. 11.

6 Vgl. Protokoll der 27. Tagung des Ausschusses der Zentralbankpräsidenten, Basel: 9. Dezember 1968 um 10.00 Uhr. Frankfurt: Archiv der Europäischen Zentralbank.

7 MAES, Ivo. The Ascent of the European Commission as an Actor in the Monetary Integration Process in the 1960s. In Scottish Journal of Political Economy. Oxford: Blackwell Publishing, Bd. 53, Nr. 2/Mai, 2006, S. 222-241. Zitat S. 228.

8 BARRE, Raymond. Les problèmes monétaires internationaux et la politique monétaire de la Communauté. In Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Bd. I, Nr. 1/November 1968, S. 17.

9 Siehe DYSON, Kenneth und QUAGLIA, Lucia. European Economic Governance and Policies. Volume I: Commentary on Key Historical and Institutional Documents. Oxford: Oxford University Press, 2010, S. 151.

10 Dargelegt am 26. Januar 1968 in seiner Rede Perspectives de la Politique Financière et Monétaire Européenne in Saarbrücken auf dem Wirtschaftsparteitag der CDU. Als wichtig für die europäische Währungsintegration erachtet Pierre Werner die Schaffung einer europäischen Rechnungseinheit, die Konsultation, feste Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen und die Solidarität nach innen und außen (er erwähnt einen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit). (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

11 Memorandum der Kommission an den Rat über die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die Zusammenarbeit in Währungsfragen innerhalb der Gemeinschaft vom 12. Februar 1969 in Bulletins der EWG, Sonderbeilage 3/1969. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

12 Empfehlung des Rates vom 15. April 1964 an die Mitgliedstaaten zur Wiederherstellung des inneren und äußeren Gleichgewichts der Wirtschaftsentwicklung in der Gemeinschaft. In Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 64 vom 22.4.1964.

13 Ebenda. Memorandum vom 12. Februar 1969, Bulletin der EWG, Nr. 3/1969, S. 14.

14 Siehe MAES, Ivo. Projets d’intégration monétaire à la Commission européenne. In BUSSIERE, Eric; DUMOULIN, Michel (Hg.), Milieux économiques et intégration européenne en Europe occidentale au XXe siècle. Arras: Artois Presses Université, 1998. S. 35-50. Zitat S. 42.

15 Siehe WERNER, Pierre. Itinéraires. Bd. II, S. 100-105.

16 Auf dieser Tagung war Frankreich durch den Präsidenten der Republik vertreten, während die anderen Mitgliedstaaten – Deutschland, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg – die Regierungschefs entsandt hatten.

17 Es treffe zwar zu, dass die Währungsunion auf einer soliden wirtschaftlichen Grundlage beruhen müsse, die von Kompatibilität der Entwicklungen und Konvergenz der Wirtschaftspolitik gekennzeichnet sei, da sie andernfalls dauerhaft gefährdet wäre, doch sei nicht weniger zutreffend, dass verstärkte währungspolitische Solidarität Kompatibilität und Konvergenz fördere. Die Wechselwirkung zwischen der Wirtschaftspolitik und der Währungspolitik sei ein starker Faktor für einen größeren Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft. In Mitteilung der Kommission an den Rat über die Ausarbeitung eines Stufenplans für die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion 1970, Beilage zum Bulletin der EG, Brüssel, Nr. 3/März 1970. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

18 Ebenda.

19 DELL’AMORE, Giordano, Rektor der Universität Bocconi in Mailand. Pour un système monétaire européen. In Europe, Agence Europe, 12.3.1970, Nr. 568, S. 1. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012).

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