Themendossier

Origin and development

Ursprung und Entwicklung der Europäischen Union


Der besondere Charakter der Europäischen Union resultiert aus den unterschiedlichen Entwicklungen ihrer einzelnen Bestandteile. Mit der Annahme des Vertrags von Maastricht im Jahr 1992 entsteht durch die Fusion der drei Organisationen auf der Grundlage einer sektoriellen Integration (der in den 1950er Jahren gegründeten Europäischen Gemeinschaften) und der zwei Bereiche der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie Justiz und Inneres – in einem einheitlichen institutionellen Rahmen die Europäische Union. Seit diesem Vertrag spricht man von den drei Pfeilern. Der erste Pfeiler, der supranationaler Natur ist, umfasst die drei Gemeinschaften, die jeweils über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügen. Die Europäische Union selber, die den Gemeinschaftspfeiler und die beiden Pfeiler der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit unter einem Dach vereint, besitzt jedoch keine eigenständige Rechtspersönlichkeit.


Die Europäische Union ist die erste internationale Organisation mit allgemeiner Zielsetzung, deren Gegenstand nicht die Koordinierung der Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten ist, sondern die gemeinsame Umsetzung ausgewählter Politiken im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften. Daraus resultiert ein innovatives Organisationsmodell – die Organisation supranationaler Integration –, das durch eine bewusste Übertragung bestimmter souveräner Kompetenzen der Staaten entstanden ist. Die Mitgliedstaaten verzichten nicht auf ihre nationalen Zuständigkeiten, sie beschließen lediglich, sie auf einer höheren Ebene mittels gemeinsamer Institutionen zu verwalten. So entstehen im Jahr 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und im Jahr 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG oder Euratom).


Die drei Gemeinschaften üben jeweils nur die ihnen von den Staaten übertragenen Zuständigkeiten aus. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung bestimmt, dass jede Gemeinschaft auf der Grundlage der jeweiligen Gründungsverträge „innerhalb der Grenzen der ihr … zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig wird“ (dieser Grundsatz gilt für den Vertrag von Paris zur Gründung der EGKS und für die Römischen Verträge zur Gründung von EGKS, EWG und EAG bzw. Euratom). Die Gemeinschaftsorgane - Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof, Rechnungshof – handeln im Übrigen, unterstützt durch den Wirtschafts- und Sozialausschuss, innerhalb der Grenzen der ihnen durch die Verträge zugewiesenen Befugnisse.


Ausgehend von dem Gedanken eines immer engeren Zusammenschlusses der Völker Europas wird die europäische Integration schrittweise umgesetzt, zunächst durch die Zusammenlegung einzelner nationaler Wirtschaftsbereiche, später durch die Einrichtung eines gemeinsamen Marktes, dem schließlich die Wirtschafts- und Währungsunion folgt. Trotz ihrer wirtschaftlichen Grundlagen ist die Zielsetzung der Europäischen Union ursprünglich jedoch politischer Art. Der funktionelle Ansatz, den Jean Monnet und Robert Schuman, die „Gründungsväter“ der Gemeinschaften verfolgten, geht vom unvermeidlichen Übergang von der Wirtschaft zur Politik aus. Konkrete Ergebnisse in einem Wirtschaftsbereich wirken sich unmittelbar auf die Funktionsweise anderer Sektoren aus. Die durch dieses Wechselverhältnis aufgeworfenen Fragen erfordern Antworten, die politische Entscheidungen notwendig machen.


So wird durch die Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes, in dem sich die Waren frei bewegen können, auch die Frage der Freizügigkeit von Personen, Dienstleistungen und Kapital aufgeworfen, was eine ganze Reihe von Begleitmaßnahmen in den Bereichen Wettbewerb, Industrie, Landwirtschaft, Verkehr, Forschung usw. nach sich zieht. Mit der Zeit wird es notwendig, ergänzende politische Maßnahmen zu entwickeln, die in sensiblere staatliche Vorrechte eingreifen. Diese Entwicklung trifft zum Beispiel auf die Sozialpolitik oder auch auf die Haushaltspolitik zu. Die internen Politiken haben außerdem Auswirkungen auf die Außenbeziehungen, mit denen sich die Organisation als Akteur im Rahmen des Völkerrechts gegenüber Drittstaaten und anderen internationalen Organisationen auseinander setzen muss. Aus dieser Situation ergeben sich Außenbeziehungen in den Bereichen Welthandel, Entwicklungshilfe, Einwanderung, Verteidigungspolitik usw.


Trotz der Entwicklungsdynamik der Gemeinschaft stellt der mit jedem weiteren Schritt gewonnene Integrationsgrad das Ergebnis von Kompromissen dar, die nicht immer leicht zu erreichen sind. Die Staaten, die eigenen wirtschaftlichen und sozialen Zwängen und nationalen Empfindlichkeiten unterliegen, befinden sich in der Zwickmühle zwischen den Vorteilen der Solidarität und den Nachteilen der häufig als Souveränitätsverlust empfundenen Begrenzung ihrer politischen und haushaltspolitischen Autonomie. Gleichzeitig muss die Union, gewissermaßen Opfer ihres eigenen Erfolges, zwei nicht voneinander trennbare Prozesse parallel bewältigen, nämlich den ihrer Erweiterung um neue Mitgliedstaaten, die sich um Aufnahme bewerben, und den derVertiefung ihrer Befugnisse und ihrer institutionellen Verfahren. Es geht darum, die berechtigten Erwartungen der Mitgliedstaaten zu erfüllen, ohne dem reibungslosen Funktionieren der Gemeinschaftsorgane zu schaden. Das mit den Gründungsverträgen geschaffene gemeinsame Übereinkommen entwickelt sich folglich mit der Zeit je nach Zusammensetzung der Organisation, den Forderungen der Beteiligten am europäischen Aufbauwerk und den Änderungen im geopolitischen Umfeld auf pragmatische Weise.


Die Umsetzung der wichtigsten Reformen der Gründungsverträge erfolgte mit der Annahme der Einheitlichen Europäischen Akte im Jahr 1986, des Vertrags von Maastricht im Jahr 1992, des Vertrags von Amsterdam im Jahr 1997 und des Vertrags von Nizza im Jahr 2001. Der Vertrag von Maastricht ist der Vertrag, der die tiefstgreifenden Änderungen in der Struktur der Gemeinschaft bewirkt. Er führt die Europäische Union mit ihrer Pfeilerstruktur ein und stellt die EWG, die zur Europäischen Gemeinschaft (EG) wird, ins Zentrum des Aufbauwerks. Im Jahr 2002 läuft der EGKS-Vertrag fünfzig Jahre nach seinem Inkrafttreten aus. Im Jahr 2004 wird in Rom der Vertrag unterzeichnet, der eine Verfassung für Europa begründet, die zunächst jedoch noch von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert werden muss. Durch diesen „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, der alle vorhergehenden Verträge – außer dem EGKS-Vertrag und dem Euratom-Vertrag – aufheben würde, würde die Union endlich eine eigene Rechtspersönlichkeit erlangen. Die nach Maßgabe dieses neuen Vertrags entstehende Europäische Union würde damit an die Stelle der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft treten, wie sie durch den Vertrag von Maastricht gegründet wurden.


Die durch die aufeinander folgenden Revisionen der Gründungsverträge bewirkten Veränderungen im Wesen und in der Funktionsweise der Organisation zeigen, welcher Grad an Kompromissfähigkeit zu jedem historischen Zeitpunkt möglich ist. In einer sich zunehmend erweiternden und diversifizierenden Union kann sich der Weg der Integration, mit dem die neuen, im internationalen Kontext entstandenen Herausforderungen bewältigt werden sollen, angesichts des Widerstands einiger Mitgliedstaaten, auf staatliche Hoheitsrechte zu verzichten, als nicht begehbar oder verfrüht erweisen. In diesen Fällen führt die Suche nach tragfähigen Lösungen, die für die meisten akzeptabel sind, über neue Formen zwischenstaatlicher Zusammenarbeit (vgl. Vertrag von Maastricht) oder über die Einführung der verstärkten Zusammenarbeit zwischen einer begrenzten Zahl von Mitgliedstaaten, die über das derzeit Übliche hinausgehen wollen (vgl. Vertrag von Amsterdam). Diese Initiativen haben keinen Einfluss auf die Möglichkeit, dass ein Bereich, der anfangs unter die zwischenstaatliche Zusammenarbeit fällt (vgl. Vertrag von Amsterdam, Bereich Visa, Asyl, Einwanderung), später vergemeinschaftet wird oder dass ein Mitgliedstaat sich später der verstärkten Zusammenarbeit anschließen kann.


Mit Blick auf die große Erweiterungsrunde der Europäischen Union im Jahr 2004 erscheint es unabdingbar, neue Kompromisslösungen zu suchen, die das Funktionieren der Organe mit 25 Mitgliedstaaten ermöglichen. Als Reaktion auf die unzureichenden Reformergebnisse durch den Vertrag von Nizza im Jahr 2001 werden am Verfahren, wonach die Änderung der Gründungsverträge über die Regierungskonferenzen (RK) erfolgt, Korrekturen vorgenommen, um es flexibler und wirksamer zu gestalten. Nach dem Vorbild des Konvents, der die Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Jahr 2000 erarbeitet hatte, tritt in Brüssel in den Jahren 2002 und 2003 der europäische Konvent zusammen, um einen Vertragsentwurf zu verfassen, der die Grundlage für die Arbeiten der nächsten Regierungskonferenz wird. Zusammengesetzt aus Vertretern der Staats- und Regierungschefs, der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission, führt der europäische Konvent ein neues Verfahren der Reform der Union ein, das transparenter ist und mehr Beteiligung ermöglichen soll. Auch wenn die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“ bleiben, so geht dieses neue Verfahren, das demokratischer und kompromissfähiger sein will, über das klassische Verfahren der multilateralen diplomatischen Verhandlungen hinaus und macht den Weg frei, um den Gründungsverträgen schrittweise verfassungsmäßigen Charakter zu verleihen.


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