Die Geburt der Partnerschaft (1974-1981)

Die Geburt der Partnerschaft (1974-1981)


Ab 1974 vollziehen sich in einigen europäischen Staaten bedeutende politische Veränderungen. Am 28. Februar kommt im Vereinigten Königreich die Labour-Partei mit Premierminister Harold Wilson zurück an die Macht, der sehr viel weniger europäisch eingestellt ist als Edward Heath, und fordert die Neuverhandlung des Beitrittsvertrags. Fünf Jahre später, 1979, wird Margaret Thatcher, Vorsitzende der britischen Konservativen Partei, Premierministerin und betreibt eine Politik, die darauf ausgerichtet ist, die Entwicklung der Gemeinschaft zu bremsen. In der Bundesrepublik Deutschland (BRD) tritt am 16. Mai 1974 Bundeskanzler Helmut Schmidt die Nachfolge von Willy Brandt an, und in Frankreich wird nach dem frühen Tod von Georges Pompidou Valéry Giscard d’Estaing – sehr viel europäischer eingestellt als sein Vorgänger –am 19. Mai zum Präsidenten der Französischen Republik gewählt. Ein deutsch-französisch-britischer „Trilateralismus“ wird aufgrund der britischen Vorbehalte unmöglich, was dem deutsch-französischen Bilateralismus neuen Schwung verleiht. Zu jener Zeit begann man in Frankreich vom deutsch-französischen „Paar“ zu sprechen − die Deutschen bevorzugten den Begriff „Tandem“. Dieses beruht vor allem auf den freundschaftlichen Beziehungen zwischen Giscard und Schmidt, die sich als Finanzminister kennengelernt hatten. Der französische Staatspräsident empfindet in Bezug auf die Bundesrepublik nicht das Misstrauen seines Vorgängers. Er will „von der deutsch-französischen Versöhnung zur deutsch-französischen Verständigung“ gelangen – im Dienste des europäischen Aufbauwerks. Giscard und Schmidt sind sich über die Notwendigkeit einig, die Bundesrepublik im Westen zu verankern und die Europäischen Gemeinschaften zu stärken.


Diese neuen Impulse für Europa machen sich zunächst auf institutioneller Ebene bemerkbar. Bereits Ende der 1960er Jahre erscheinen die Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs, die damals sporadisch abgehalten wurden, als das beste Mittel, die festgefahrene Situation in den Organen und Entscheidungsverfahren, zu der es insbesondere durch das Scheitern der Fouchet-Pläne für eine politische Union gekommen war, zu überwinden. In Anbetracht des internationalen Umfelds wurde es jedoch Anfang der 1970er Jahre immer dringender, die Debatte über die europäischen Institutionen wiederaufzunehmen. Der Beitritt Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreiches zur EWG, der erste Ölpreisschock und der Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods veranlassen die Neun, ihre politische Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.


Der französische Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing befürwortet ein Europa der Staaten und wünscht nicht, dass über die Kommission oder das Parlament der Gedanke von Supranationalität wiederaufkommt. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, der kein so großer Föderalist wie seine Vorgänger ist, hätte jedoch eine Stärkung dieser unabhängigen Organe lieber gesehen, wie sie auch von den deutschen Parteien und den meisten anderen Mitgliedstaaten gefordert wird. Die auf der Pariser Gipfelkonferenz (9.-10. Dezember 1974) erzielte Lösung besteht in der Stärkung der Regierungszusammenarbeit in der Gemeinschaft durch die Gründung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs anstelle der unregelmäßig stattfindenden „Gipfel“; der Europäische Rat sollte regelmäßig zusammentreten und grundlegende politische Entscheidungen treffen, ähnlich wie die deutsch-französischen Räte, die durch den Élysée-Vertrag ins Leben gerufen worden waren. Im Gegenzug stimmt Frankreich der allgemeinen Direktwahl des Europäischen Parlaments zu, was zwar den gemeinschaftlichen Charakter stärkt, jedoch keine Ausweitung der noch stark begrenzten Befugnisse des Parlaments zur Folge hat.


Im Schlusskommuniqué der Gipfelkonferenz von Paris bekräftigen die Regierungschefs der Neun ihre Entschlossenheit, dreimal jährlich und so oft wie nötig in Begleitung der Außenminister zusammenzutreten. Der Europäische Rat ist ein diplomatisches und zwischenstaatliches Instrument, aber kein Organ. Durch ihn wird insoweit das persönliche Engagement der Regierungschefs im europäischen Integrationsprozess bestätigt, als sie offiziell mit einer impulsgebenden, koordinierenden und vermittelnden Rolle betraut werden und die Grundzüge der europäischen Integration und der politischen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten festlegen sollen.


Der Europäische Rat wird im Tindemans-Bericht über die Europäische Union (1976), im Bericht der Drei Weisen über die institutionelle Reform (1979), in der Europäischen Akte (1981) und dann im Spinelli-Entwurf für einen Vertrag zur Errichtung der Europäischen Union (1984) begrüßt, wobei jedoch in all diesen Dokumenten Veränderungen in der Praxis vorgeschlagen werden. Im Februar 1986 erhält der Europäische Rat mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) eine offizielle Rechtsgrundlage und wird darin faktisch als Organ definiert, das allgemeinen Leitlinien wie auch die Leitlinien für die europäische politische Zusammenarbeit festlegt. Tatsächlich wird der Europäische Rat eine zunehmende Rolle bei der weiteren Integration spielen.


Auf wirtschaftlicher Ebene machten die unterschiedlichen Interessen Frankreichs und Deutschlands jegliches Vorankommen sehr mühsam. Die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik, die Frankreich sehr am Herzen liegt und die die Deutschen für zu teuer halten, wird jedoch bereits angeschoben. Frankreich fordert eine gemeinsame Industriepolitik, die die Deutschen allerdings als Interventionismus ablehnen, der die Gesetze des Marktes verfälschen würde.


Ein entscheidender Fortschritt wird dafür bei der Bewältigung der Währungskrise erzielt, die Westeuropa Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre erfasst. Die Abwertung des französischen Francs, die Aufwertung der Deutschen Mark (DM) und der Zusammenbruch des internationalen Währungssystems von Bretton Woods sind ebenfalls Faktoren, die die europäischen Märkte destabilisieren. Zudem suchen die europäischen Politiker nach dem Scheitern der europäische Währungsschlange nach einem neuen Ansatz, um die Stabilität ihrer Währungen zu gewährleisten. Frankreich, von einer hohe Inflation betroffen, die es einzudämmen gilt, rechnet mit der Unterstützung der BRD, um eine neue währungspolitische Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen. Mit ihr sollen die Währungen stabilisiert und soll Europa mit Mitteln ausgestattet werden, mit denen es der währungspolitischen Vorherrschaft der USA wirksamer entgegentreten kann. Die BRD befürchtet indessen eine Ausbreitung der inflationären Tendenzen. Die Bundesbank, die für die Wahrung des Grundsatzes der Stabilität verantwortlich ist, lehnt eine zu enge währungspolitische Zusammenarbeit ab, und Bundeskanzler Helmut Schmidt zögert lange, einen Schritt weiter zu gehen. Die Deutschen sind nämlich wenig begeistert von der Idee, ihre starke Währung und ihre wirtschaftliche Stabilität aus Spiel zu setzen, um weniger vorbildliche europäische Partner zu unterstützen.


Dank der Entschlossenheit der Politiker und angesichts der wirtschaftlichen Zwänge kommt es zu einer Annäherung der bis dahin im Widerspruch zueinander stehenden währungspolitischen Philosophien Frankreichs und Deutschlands.


1978 akzeptiert Helmut Schmidt schließlich vom Grundsatz her ein Währungsabkommen, das ihm Valéry Giscard d'Estaing mit aller Dringlichkeit vorschlägt. Im Gegenzug muss sich Frankreich bemühen, das Inflationsgefälle gegenüber seinen Nachbarn abzubauen. Ziel der Maßnahme sind die Schaffung einer stabilen Währungszone in Europa, die Verhinderung ständiger Währungsabwertungen und die Förderung von Handel, Wachstum und wirtschaftlicher Konvergenz.


Diese vielversprechenden, offiziell erklärten Ziele sollen vor allem die Wirtschafts- und Finanzkreise in Deutschland überzeugen und ihnen Zuversicht im Hinblick auf das geplante Europäische Währungssystem (EWS) einflößen.


Auf dem Kopenhagener Gipfel am 7. und 8. April 1978 schlagen Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt erneut die Schaffung eines neuen Europäischen Währungssystems (EWS) vor, das allen EG-Staaten offenstehen soll. Vor einem insgesamt günstigen wirtschaftlichen Hintergrund billigt der Europäische Rat in Bremen am 7. Juli 1978 die Schaffung des EWS. Die Organe der Gemeinschaft und die Finanzminister der neun Mitgliedstaaten werden umgehend aufgefordert, konkrete Vorschläge auszuarbeiten, die auf der Tagung des Europäischen Rates am 4. und 5. Dezember 1978 in Brüssel förmlich angenommen werden.


Am 13. März 1979 wird das EWS eingeführt, allerdings ohne das Vereinigte Königreich, das dem Wechselkursmechanismus des EWS nicht beitritt, um den Kurs des Pfunds weiterhin frei schwanken lassen zu können. Die Parität zwischen dem Pfund Sterling und dem irischen Pfund wird aufgehoben. Die Gemeinschaftshilfen für die anderen Länder mit schwacher Währung wie Italien und Irland werden aufgestockt, und Frankreich setzt die stufenweise Abschaffung der Währungsausgleichsbeträge (WAB) durch, die seine Landwirte seit langem fordern. Das EWS wird oft als verbesserte Währungsschlange bezeichnet, denn seine wichtigste Neuerung gegenüber der Währungsschlange ist die Einführung des ECU (European Currency Unit - Europäische Währungseinheit). Die Initiative für ein neues Europäisches Währungssystem (EWS) liegt also beim deutsch-französischen Tandem.


In der Außenpolitik besteht ein wesentlicher Punkt in der Annäherung der Standpunkte beider Staaten hinsichtlich der Beziehungen mit den USA. Ohne sich zum Atlantiker bekehren zulassen, kritisiert der französische Präsident Giscard – anders als seine Vorgänger − die amerikanische Vorherrschaft nicht und fordert Bonn nicht weiter auf, die unmöglich zu bewerkstelligende Wahl zwischen Paris und Washington zu treffen. Frankreich tritt zwar nicht wie seine Partner der Europäischen Gemeinschaft auf Aufforderung Washingtons der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) bei und lehnt es ab, die außenpolitische Zusammenarbeit zwischen den Neun den transatlantischen Konsultationen unterzuordnen, aber Giscard d’Estaing nähert sich den Vereinigten Staaten an, insbesondere im Rahmen der jährlichen Gipfeltreffen der Industriestaaten ab 1975, die er angeregt hat. Helmut Schmidt seinerseits distanziert sich von den USA, beunruhigt angesichts ihrer Währungs- und Nuklearpolitik und ihrer instabilen Politik gegenüber der Sowjetunion, die sie unter Ausschluss der Europäer betreiben. Somit ermöglicht die deutsch-französische Verständigung den Ausdruck einer europäischen Haltung, die sich weder den USA unterwirft, noch Schwäche gegenüber der Sowjetunion zeigt. Als diese 1979 in Afghanistan einmarschiert, setzen Giscard und Schmidt sich weiter für die Entspannungspolitik ein, während der amerikanische Präsident Reagan heftig reagiert und ein Exportembargo gegen die Sowjetunion verhängen lässt; Giscard und Schmidt sorgen dafür, dass die Gemeinschaft beschränkte Sanktionen erlässt. In Nahost-Fragen nähert Schmidt sich trotz der deutschen Verbindungen zu Israel der Position Giscards an, weswegen der Europäische Rat am 13. Juni 1980 die Erklärung von Venedig verabschieden kann, die das Recht auf Existenz und Sicherheit aller Staaten in der Region, einschließlich Israels, bekräftigt und somit die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes anerkennt und mögliche Lösungen für den Konflikt enthält.


Auf diese Weise hat das Team Giscard-Schmidt mit der Gründung des Europäischen Rates, der Wahl zum Europäischen Parlament und dem EWS den Boden für die zukünftige Europäische Union bereitet. Beide Männer wollen ihr Werk vollenden und die Einheit des politischen Europas in Angriff nehmen, dessen Präsidentschaft Giscard nach seiner zweiten Amtszeit als Präsident Frankreichs hätte übernehmen können. Indes muss er den Élysée-Palast am 19. Mai 1981 verlassen. Nach einer Phase der Unsicherheit sollte sein Nachfolger François Mitterrand jedoch die begonnene Entwicklung fortsetzen.


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