Die Zukunft des „deutsch-französischen Duos“: Trennung oder Wiederherstellung des Gleichgewichts?
Die Zukunft des deutsch-französischen Duos: Trennung oder Wiederherstellung des Gleichgewichts?
Die schwierige Tagung des Europäischen Rates in Nizza im Jahr 2000 und das Scheitern des Ratifizierungsverfahrens für die Europäische Verfassung in Frankreich 2005 machen deutlich, wie sehr die Vorstellungen Deutschlands und Frankreichs hinsichtlich der endgültigen Ziele des europäischen Integrationsprozesses und der für deren Verwirklichung benötigten Instrumente auseinandergehen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit hat sich seit den 1960er Jahren von Grund auf gewandelt. Der deutsch-französische Bilateralismus in Fragen der Entwicklung Europas wird weiterentwickelt und an die Erfordernisse und Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts angepasst. Gleichwohl kommt es zwischen beiden Ländern zunehmend zu Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft der europäischen Idee, und der deutsch-französische Motor gerät ins Stottern. Im Juli 2006 rufen die Vorschläge von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Umgestaltung der europäischen Nachbarschaftspolitik, insbesondere mit den östlichen Nachbarn Deutschlands, Verärgerung beim französischen Partner hervor, der in dieser Frage nicht konsultiert worden ist. Doch ist es vor allem der Vertrag über eine Verfassung für Europa, der für Aufregung sorgt. Ausgearbeitet im Rahmen des Europäischen Konvents und am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichnet, wird er nie in Kraft treten. Während elf Mitgliedstaaten den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert haben, führt das Scheitern der im Frühjahr 2005 in Frankreich und in den Niederlanden durchgeführten Referenden zum Abbruch des Ratifizierungsprozesses. Die Europäische Union gerät daraufhin in eine beispiellose Krise, die zwei Jahre andauern wird.
Es ist der deutsche Ratsvorsitz unter Führung von Bundeskanzlerin Merkel, dem es durch zahllose Konsultationen gelingt, die Union aus der Sackgasse herauszuführen. Diese Periode steht vor allem im Zeichen des Ausscheidens von Jacques Chirac aus dem Amt des Präsidenten der Republik, welches das Ende eines Zyklus in den deutsch-französischen Beziehungen markiert. Der Amtsantritt von Präsident Nicolas Sarkozy im Mai 2007 ist durch eine Auswechselung des politischen Personals, aber auch durch einen neuen Stil bei der Ausübung des Präsidentenamtes gekennzeichnet. Das Verhalten des neuen Staatspräsidenten irritiert die deutschen Politiker, die sich über Sarkozys Neigung zur Egozentrik aufregen, zumal Deutschland zu jener Zeit sechs Monate lang den Vorsitz des Rates der Europäischen Union innehat.
Am 23. Juni 2007 kommen die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat überein, eine neue Regierungskonferenz (RK) einzuberufen, die einen „Reformvertrag“ zur Änderung der geltenden Verträge ausarbeiten soll. Die Regierungskonferenz nimmt ihre Arbeit am 23. Juli 2007 auf und endet am 18. Oktober 2007 mit einer informellen Tagung der Staats- und Regierungschefs in Lissabon. Während dieser Tagung wird schließlich eine politische Einigung auf den Text des neuen Vertrags erzielt. Der Vertrag von Lissabon wird am 13. Dezember 2007 unterzeichnet. Die 27 Mitgliedstaaten der EU setzen sich dafür ein, die innerstaatlichen Ratifikationsverfahren zügig abzuschließen. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der aus Furcht vor einem erneuten Scheitern kein nationales Referendum über den vorgeschlagenen neuen Vertrag durchführen lassen will, lässt die Ratifizierung durch parlamentarische Abstimmung vornehmen. Zwei Jahre später, am 1. Dezember 2009, tritt der Vertrag von Lissabon endlich in Kraft. Die deutsche Presse übt Kritik insbesondere an Präsident Sarkozy, der sich in den Vordergrund drängt und als Retter des europäischen Verfassungsvertrags präsentiert. Das Gebaren des Franzosen verstimmt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, und die Öffentlichkeit beginnt die wahre Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen zu hinterfragen. Neben den unterschiedlichen Standpunkten zur Europäischen Union ist es der tiefgreifende Unterschied im Stil, der die beiden Politiker trennt. Zumal das Verhältnis zwischen beiden Ländern durch andere europäische Themen belastet ist.
Ohne sich mit seinem deutschen Partner abzustimmen, äußert der französische Präsident Sarkozy den Gedanken, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank einzuschränken, und spricht sich für die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsregierung aus. Diese beiden Vorschläge stoßen bei der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Ablehnung. Zudem steht Deutschland dem Projekt einer Mittelmeerunion kritisch gegenüber, das der französische Präsident verfolgt. Obwohl am 13. Juli 2008 in Paris ein Gipfeltreffen der Mittelmeeranrainerstaaten stattfindet, dem am 14. Juli ein Treffen zwischen diesen und den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union folgt, scheut sich die Bundeskanzlerin nicht, ihre Skepsis gegenüber dem französischen Vorhaben zum Ausdruck zu bringen und auf die Gefahr einer Spaltung Europas hinzuweisen.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die den Euro-Raum ab 2008 erschüttert, zwingt Frankreich und Deutschland zur Wiederannäherung. Dennoch bestehen nach wie vor Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die Instrumente zur Bekämpfung der Krise. Während der gesamten französischen Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union versucht Frankreich Deutschland davon zu überzeugen, sich stärker an der Finanzierung des europäischen Konjunkturprogramms zu beteiligen, doch die deutsche Kanzlerin lehnt jeden zusätzlichen Beitrag ab. Dann endlich, während der Tagung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs am 11. und 12. Dezember 2008 in Brüssel, erklärt Deutschland nach langwierigen Verhandlungen seine Zustimmung zu einem europäischen Konjunkturprogramm in Höhe von 200 Milliarden Euro.
Im Oktober 2009 verschärft sich die Krise in der Eurozone. Der neu gewählte griechische Ministerpräsident und Sozialist, Georges Papandreou, legt offen, dass mit einem Defizit seines Landes von 12,7 % des Bruttoinlandsprodukts anstatt 6 %, wie von der konservativen Vorgängerregierung angekündigt, zu rechnen sei. Laut Stabilitätspakt darf das öffentliche Defizit höchstens 3 % des BIP betragen. Zwei Monate später stuft die Ratingagentur Fitch Ratings die langfristige Kreditwürdigkeit des Landes um eine Stufe herab und andere Agenturen folgen ihr, sodass Griechenland gezwungen ist, immer höhere Zinsen an seine Kreditgeber zu zahlen. Dies führt zu einem Zusammenbruch des Aktienmarkts und zur Aufstellung eines ersten Sparprogramms (höhere Steuern und Abgaben, Einfrieren der Beamtengehälter usw.). Ab 2010 stürzt Griechenland, geschwächt durch die Finanzkrise, in eine Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit schnellt nach oben, und im April bittet die griechische Regierung den Internationalen Währungsfonds und die Europäische Union um Hilfe. Während der französische Staatspräsident dringend ein Hilfsprogramm für Griechenland verlangt, findet dies bei der Bundeskanzlerin wenig Anklang, und sie fordert strengere Sanktionen gegen Mitgliedstaaten, die sich wie Griechenland nicht an die Vorgaben des Stabilitätspakts halten. Am 2. Mai legt die EU ein Rettungspaket auf, in dessen Rahmen über einen Zeitraum von drei Jahren 110 Milliarden Euro an Darlehen bereitgestellt werden sollen. An diesem Paket ist auch der IWF beteiligt. Im Gegenzug muss Griechenland drakonische Maßnahmen zur Verringerung der Ausgaben akzeptieren und tiefgreifende Strukturreformen durchführen (Sparprogramm im Umfang von 30 Mrd. EUR, Rentenreform, weitere Kürzungen im öffentlichen Dienst, Steuererhöhungen usw.). Diese Situation führt zu von Gewalt begleiteten Protesten in der griechischen Hauptstadt.
Das Hilfspaket für Griechenland reicht jedoch nicht aus, um die Märkte zu beruhigen, und die EU muss einen Sondergipfel der Mitgliedstaaten des Eurogebiets einberufen. Sie beschließen am 10. Mai die Einrichtung einer Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), die die Kreditaufnahme von bis zu 440 Mrd. EUR auf den Märkten gestatten soll, um Mitgliedstaaten des Euroraums, die durch eine eventuelle Ausweitung der Griechenlandkrise gefährdet sind, zu unterstützen.
Angesichts der Schuldenkrise, die nun weitere Länder des Euro-Währungsgebiets bedroht, schließt sich der französische Präsident Sarkozy den Auffassungen der deutschen Kanzlerin zur wirtschaftspolitischen Steuerung der Europäischen Union an. Frankreich und Deutschland sprechen sich dafür aus, dass auf dem G20-Gipfel am 26. und 27. Juni 2010 in Toronto die Einführung einer Steuer für Finanzinstitute und einer Finanztransaktionssteuer beschlossen wird. Diese Forderungen werden in einem gemeinsamen Schreiben niedergelegt, das sowohl an den kanadischen Premierminister Stephen Harper, der den G20-Vorsitz innehat, als auch an die Staats- und Regierungschefs der G20 gerichtet ist. Ziel ist es, die Stabilität des Euroraums zu erhöhen, indem Überwachungsmechanismen zur besseren Regulierung der Finanzmärkte und Bekämpfung der Spekulation geschaffen werden.
Am 18. Oktober 2010 nehmen Präsident Sarkozy und Bundeskanzlerin Merkel am Rande eines Dreiergipfels Deutschland-Frankreich-Russland in Deauville eine Gemeinsame Erklärung zur Reform des europäischen Stabilitätspakts an. Deutschland und Frankreich sind der Auffassung, dass die europäische wirtschaftspolitische Zusammenarbeit gestärkt werden muss, und die beiden Politiker plädieren dafür, die Änderung des Vertrags von Lissabon auf folgende Themen zu begrenzen:
„Die Einrichtung eines auf Dauer angelegten und robusten Rahmens, um in Zukunft ein geordnetes Krisenmanagement zu ermöglichen, der die nötigen Vorkehrungen für eine angemessene Beteiligung privater Gläubiger vorsieht und den Mitgliedstaaten erlaubt, geeignete, koordinierte Maßnahmen zu ergreifen, um die finanzielle Stabilität der Euro-Zone als Ganzer zu gewährleisten.
Im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion und gemäß adäquater Verfahren die Aussetzung der Stimmrechte der betroffenen Mitgliedstaaten.“
Dieser deutsch-französischen Vorschlag, der von einigen als Gewaltstreich bezeichnet wird, verärgert viele Vertreter der Europäischen Kommission, der EZB und der Euro-Gruppe und verstimmt die anderen europäischen Partner, die von den Gesprächen ausgeschlossen wurden und es nicht hinnehmen, dass ihnen ihre Standpunkte auf diese Art und Weise aufgezwungen werden. Am 17. August 2011 wird die Initiative des deutsch-französischen Tandems fortgeführt. In einem gemeinsamen Schreiben an den Präsidenten des Europäischen Rates Herman Van Rompuy legen die deutsche Bundeskanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy ihre Vorstellungen über die Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung des Euro-Währungsgebiets dar und schlagen eine Wirtschaftsregierung in Form regelmäßiger Treffen der Staats- und Regierungschefs unter dem Vorsitz von Herman Van Rompuy vor. Die beiden führenden Politiker bekräftigen ihren „absoluten Willen, den Euro zu verteidigen“ und schlagen außerdem vor, dass die 17 Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets bis Sommer 2012 eine goldene Haushaltsregel verabschieden, der zufolge sich jeder Mitgliedstaat verpflichtet, seine Defizite zu verringern. Das deutsch-französische Tandem hält es jedoch für verfrüht, die Einführung von Eurobonds in Erwägung zu ziehen, und schließt sie zu diesem Zeitpunkt aus. Paris und Berlin scheinen die gleiche Linie zu verfolgen und vom Standpunkt vieler Beobachter aus betrachtet stärkt diese bessere Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland das Image des deutsch-französischen Tandems als Motor der europäischen Integration. Andere kritisieren hingegen die systematischen Offensiven Frankreichs- und Deutschlands und verweisen auf die wesentliche Rolle, die der Europäischen Zentralbank oder der Euro-Gruppe bei der Bekämpfung der Verschuldung im Euro-Währungsgebiet zukommt.
Angesichts der Häufung der gemeinsamen Aktionen und Vorschläge von Berlin und Paris, die zumeist ohne vorherige Konsultation der anderen europäischen Partner erfolgen, wird dem deutsch-französischen Paar der Spitzname „Merkozy“ gegeben, womit man sich über die Nähe zwischen Nicolas Sarkozy und Angela Merkel lustig macht und die Inszenierung des deutsch-französischen Tandems kritisiert.
Doch 2011 gleitet Griechenland trotz aufeinanderfolgender Sparmaßnahmen und zweier Hilfspakete in die Rezession ab, und die Staatsverschuldung überschreitet 150 % des BIP. Im ganzen Land mehren sich die oft mit Gewalt einhergehenden Demonstrationen. Die Staatsschuldenkrise greift nun auf andere Länder wie Spanien, Portugal und Italien über. Am 10. Januar 2012 bekräftigen die deutsche Kanzlerin und der französische Staatspräsident in einer gemeinsamen Pressekonferenz ihre Entschlossenheit, den Euro aus der Krise herauszuführen, und kündigen Vorschläge zur Förderung der Beschäftigung und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas an. Doch Nicolas Sarkozy wird seine engagierte Politik an der Seite der deutschen Bundeskanzlerin nicht fortführen können.
Trotz der Unterstützung durch Angela Merkel unterliegt Nicolas Sarkozy bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 François Hollande, der am 15. Mai neuer Präsident der Französischen Republik wird.
Ein neues deutsch-französisches Tandem wird gebildet und muss sich vielfältigen europäischen Problemen stellen: Es gilt, die Ausbreitung der Wirtschafts- und Finanzkrise im Euro-Währungsgebiet zu verhindern, sich für die Rettung des Euro einzusetzen, Wachstum und Beschäftigung in Europa in Europa anzukurbeln usw. Die beiden Partner denken über neue Wege nach, die europäische Konjunktur zu beleben, und obgleich die deutsche Kanzlerin stark mit der Wiederwahl von Nicolas Sarkozy gerechnet hatte, muss sie sich nun mit dem neuen französischen Präsidenten zusammenraufen, damit Frankreich und Deutschland weiterhin als treibende Kraft der europäischen Integration wirken können. Geprägt durch einen schwierigen Start und grundlegende Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Weg, den die EU einschlagen muss, um sich wirtschaftlich zu erholen (Hollande tritt für eine Vergemeinschaftung der Schulden und für Euro-Bonds ein; Deutschland hebt die Bedeutung von Strukturreformen und des Defizitabbaus hervor), sind die deutsch-französischen Positionen zahlreichen Turbulenzen ausgesetzt. Vielen Beobachtern zufolge waren die Beziehungen zwischen Paris und Berlin seit 60 Jahren nicht mehr so angespannt. In Anbetracht dieses gegenseitigen Misstrauens ist es fraglich, ob ein echtes Tandem Hollande-Merkel entsteht und ob es den europäischen Motor wieder anzukurbeln vermag. Das Einvernehmen zwischen Frankreich und Deutschland liegt nicht nur im Interesse beider Länder, sondern ist zugleich notwendig, um den europäischen Integrationsprozess voranzubringen und Europa aus der Krise, in der es sich befindet, herauszuführen.