Die Entstehung des gemeinschaftlichen Europas

Die Entstehung des gemeinschaftlichen Europas

 

Im Jahr 1945 ist Europa besiegt und am Ende. Zwar gelten Großbritannien und Frankreich als Sieger über das vernichtete und zur Kapitulation gezwungene Hitlerdeutschland. England – verherrlicht für den erfolgreichen Widerstand gegen die Naziherrschaft  –  ist jedoch durch den Krieg erschöpft und ruiniert. Das besetzte und später durch die heftigen Kämpfe teilweise zerstörte Frankreich ist nicht mehr in der Lage, seine Verteidigung und seinen Wiederaufbau ohne die Unterstützung seiner Alliierten zu gewährleisten. Zu Beginn des Kalten Krieges gerät das geteilte Europa zum ersten Mal in seiner Geschichte in die Abhängigkeit der USA und der Sowjetunion, der unumstrittenen Sieger des Weltkriegs.

 

Gleichwohl versucht Europa, sich aus der Asche zu erheben, und sucht nach einer friedlichen und nachhaltigen Lösung für seine Zukunft. Die Erbfeinde Deutschland und Frankreich stehen im Zentrum der Pläne für eine neue europäische Ordnung. In dem Bewusstsein, dass England ein strukturiertes Europa ablehnen wird, wendet sich Frankreich seinem deutschen Nachbarn zu. Allerdings stellt die Frage der Kohle- und Erzvorkommen des Saarlandes und des Ruhrgebiets die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf eine harte Probe. Frankreich fühlt sich nach wie vor von Deutschland bedroht. 

 

Fest entschlossen, die festgefahrene Situation zu lösen und die spaltenden Faktoren für die Herstellung der Einheit zu nutzen, tritt der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 mit einer spektakulären Erklärung vor die Presse. Von den europäischen Vorhaben seines Landsmannes, des Generalkommissars für Planwirtschaft Jean Monnet angeregt, schlägt er die Zusammenlegung der Eisen- und Stahlerzeugung beider Länder unter dem Dach einer stabilen supranationalen Struktur, der künftigen Hohen Behörde, vor. Dieser Plan zur Integration einzelner Sektoren der Wirtschaft ist sowohl als Garant gegen eine mögliche Remilitarisierung Deutschlands als auch als wirksames Instrument gegen die Risiken der Überproduktion von Stahl in Westeuropa konzipiert und begründet eine Interessengemeinschaft, die beide Länder automatisch verbindet. Ein neuer deutsch-französischer Krieg wird dadurch praktisch unmöglich. Schließlich bietet der Schuman-Plan den Vorteil, die Bundesrepublik Deutschland (BRD) endgültig in die freie westliche Welt einzubinden. Der Plan wird zunächst von Bundeskanzler Konrad Adenauer und später auch von Italien und den drei Beneluxstaaten begeistert angenommen und führt am 18. April 1951 zur Unterzeichnung des Pariser Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).   

 

Die Schuman-Erklärung stellt zweifellos eine entscheidende Etappe in der Geschichte der europäischen Einigung dar. Sie gilt als Geburtsurkunde des gemeinschaftlichen Europas. Hauptziel des Schuman-Plans ist es, die jahrhundertelange deutsch-französische Feindschaft zu beenden, die Unzulänglichkeiten der damals bestehenden europäischen Organisationen auszugleichen und den Weg zu einer Föderation zu ebnen. Nur fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Hoffnung auf Frieden und Wohlstand in Europa groß.

 

Der Aufbau der europäischen Verteidigung rückt ebenfalls ins Blickfeld der westeuropäischen Länder. Im Sommer 1950 wirft die kommunistische Bedrohung, die im Juni durch den Ausbruch des Korea-Krieges konkrete Gestalt annimmt, die Frage nach dem Aufbau einer europäischen Verteidigung unter Einbeziehung deutscher Streitkräfte auf. Doch die Frage der Wiederbewaffnung Deutschlands, die von den USA gewünscht wird, um sich in Westeuropa gegen die kommunistische Bedrohung zu wappnen, spaltet die europäischen Regierungen. In der Öffentlichkeit ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an die Besatzung durch Nazideutschland noch schmerzlich und lebendig.

 

Am 24. Oktober 1950 legt der französische Ministerpräsident René Pleven der französischen Nationalversammlung einen Plan vor, in dem vorgeschlagen wird, nach der Unterzeichnung des EGKS-Vertrags eine europäische Armee aufzubauen und so künftige deutsche Verbände in eine Streitmacht unter einer einheitlichen militärischen und politischen Führung auf europäischer Ebene zu integrieren.

 

Auch die internationale Lage ist der EVG nicht förderlich. Im Indochinakrieg erleidet Frankreich schwere militärische Niederlagen, und die Rechtsnationalisten fürchten eine erneute Schwächung der französischen Armee. Mit dem Tod Stalins im März 1953 und der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Korea vier Monate später scheinen die Zeichen eher auf Entspannung zu stehen, was der EVG ihre Dringlichkeit nimmt. Schließlich fühlen sich die französischen Abgeordneten von den Amerikanern unter Druck gesetzt und wollen sich ihre Entscheidung nicht aufzwingen lassen.

 

Während die Partner Frankreichs den Vertrag bereits ratifiziert haben – mit Ausnahme Italiens, das sich jedoch dazu anschickt –, gipfeln das Gezerre und die Debatten schließlich am 30. August 1954, als die französische Nationalversammlung die Aussprache über das diplomatische Dokument, das den Präsidenten der Republik zur Ratifizierung des Vertrags über die EVG befugen würde, mit 319 zu 264 Stimmen verschiebt. Durch diesen Verfahrenstrick lehnt Frankreich somit das Vorhaben einer europäischen Armee ab, das es ursprünglich angestoßen hatte. Für die Föderalisten setzt das „Verbrechen vom 30. August“ der Dynamik der europäischen Integrationsbewegung vorläufig ein Ende. Sowohl in Westeuropa als auch in den Vereinigten Staaten herrscht allgemeine Bestürzung. Die Enttäuschung ist riesig und verlangt nach einer schnellen Reaktion. Frankreich, das sich in den letzten Jahren als Verfechter der europäischen Sache positioniert hatte, wird durch diese Ablehnung ernsthaft diskreditiert. Die deutsche Wiederbewaffnung findet ab dem 5. Mai 1955 ungeachtet des französischen Widerstands im Rahmen der Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) doch statt.

 


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