Das „deutsch-französische Zweiergespann“ und die Vorhaben für die Gestaltung Europas auf wirtschaftlichem, währungspolitischem, politischem und militärischem Gebiet

Das „deutsch-französische Zweiergespann“ und die Vorhaben für die Gestaltung Europas auf wirtschaftlichem, währungspolitischem, politischem und militärischem Gebiet


Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht über die Europäische Union wird am 7. Februar 1992 ein diplomatischer Prozess zum Abschluss gebracht, der gerade einmal zwanzig Monate zuvor begonnen hatte. Vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung bringen die 12 Mitgliedstaaten ihren Wunsch nach einer neuen Dynamik und einer Überwindung des Demokratiedefizits in den Gemeinschaftsinstitutionen zum Ausdruck. Den tatsächlichen Anstoß geben Frankreich und Deutschland, als Staatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl in einer gemeinsamen Botschaft vom 18. April 1990 in Vorbereitung des Europäischen Rates von Dublin (28. April 1990) dazu auffordern, den europäischen Einigungsprozess zu beschleunigen und zu diesem Zweck eine Regierungskonferenz einzuberufen. Hierzu werden vier Zielsetzungen formuliert: die von Deutschland und dem Europäischen Parlament geforderte demokratische Legitimation der Union zu verstärken, ihre Institutionen durch die Ausweitung des Mehrheitsvotums im Ministerrat effizienter auszugestalten, die Einheit und die Kohärenz der Unionstätigkeit in den Bereichen Wirtschaft, Währung und Politik sicherzustellen und diese für die Unionsbürger verständlicher zu formulieren und schließlich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) festzulegen und in die Tat umzusetzen.


Ein weiteres grundlegendes Problem besteht in Bezug auf die Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität, die mit derjenigen der NATO vereinbar ist, was insbesondere von den Briten und den Italienern gefordert wird, während die Franzosen und die Deutschen ein gewisses Maß an europäischer Autonomie in diesem Bereich vorziehen würden. Am 14. Oktober 1991 richten Staatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl ein gemeinsames Schreiben an den Präsidenten des Europäischen Rates. Darin regen sie an, dass die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) alle sicherheits- und verteidigungsrelevanten Fragen umfasst und die Entscheidungen der Union in diesem Bereich von der Westeuropäischen Union als der einzigen militärischen Organisation der Zwölf (oder vielmehr der Elf, weil Irland einen neutralen Standpunkt vertritt) umgesetzt werden können, unbeschadet ihrer Verpflichtungen gegenüber der NATO. Die WEU wäre dementsprechend der „bewaffnete Arm“ der Europäischen Union und könnte mit dem Atlantischen Bündnis kooperieren. Diese Vorschläge werden von den Partnern grundsätzlich akzeptiert, zumal die Amerikaner auf dem Nordatlantik-Rat in Rom (7.-8. November 1991) die Entwicklung einer europäischen Verteidigungsidentität akzeptiert haben. Ferner bringen François Mitterrand und Helmut Kohl ihre Absicht zum Ausdruck, die militärische Zusammenarbeit mit der Aufstellung eines deutsch-französischen Truppenverbands auszubauen, der den Mittelpunkt eines europäischen Korps bilden soll. Auf dem 59. deutsch-französischen Gipfeltreffen am 22. Mai 1992 in La Rochelle verkünden François Mitterrand und Helmut Kohl den offiziellen Beschluss über die Aufstellung des Eurokorps, der im „Bericht von La Rochelle“ formalisiert wird.


Vom deutsch-französischen Zweiergespann geht schließlich erneut ein weiterer entscheidender Impuls aus. Am 6. Dezember 1991 richten Staatspräsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl ein Schreiben an ihre Partner, in dem sie ihre Vorstellungen von einer künftigen politischen Union darlegen. Sie sprechen sich für eine Ausweitung der Befugnisse der Gemeinschaft (Umwelt, Gesundheit, Sozialpolitik, Energie, Forschung und Technologie, Verbraucherschutz) und der Union (Einwanderung, Visapolitik, Asylrecht, internationale Kriminalität) aus. An der vom spanischen Ministerpräsidenten Felipe González vorgeschlagenen „Unionsbürgerschaft“ halten sie fest und befürworten eine Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen (legislative Mitentscheidung Parlament-Rat, Bestätigung des vom Rat ernannten Kommissionspräsidenten durch das Parlament, Ausweitung der qualifizierten Mehrheit im Rat). Paris und Bonn unterstreichen die Schlüsselrolle des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs, der als Vermittler und Unterstützer einer kohärenten Vertiefung der Integration auftreten und dessen Rolle und Aufgaben zu diesem Zweck, insbesondere im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, ausgebaut werden solle, um auf diesem Wege schrittweise ein Verteidigungsbündnis zu errichten. Die beiden Unterzeichner bekräftigen, dass das Atlantische Bündnis insgesamt von einer Ausweitung der Rolle und der Befugnisse der Europäer und von der Schaffung eines europäischen Pfeilers im Rahmen der NATO profitieren würde.


Die Regierungen der zwölf Mitgliedstaaten verpflichten sich ferner, den Vertrag über die Europäische Union vor Ablauf des Jahres 1992 zu ratifizieren, unterschätzen dabei jedoch die Schwierigkeiten, zu denen es in diesem Zusammenhang noch kommen sollte. In Frankreich als dem Land, das den Vertrag gemeinsam mit Deutschland im Wesentlichen geprägt hat, soll sich sein Schicksal entscheiden. Der Widerstand eines Teils der gaullistischen Abgeordneten, aller Kommunisten sowie einiger Sozialisten im Parlament, der durch das dänische „Nein“ zum Vertrag noch befördert wird, wird im Zuge der Verfassungsrevision deutlich, die eine wesentliche Voraussetzung für die Ratifizierung bildet. Staatspräsident Mitterrand entscheidet sich aus diesem Grund am 3. Juni dafür, nicht mehr den Weg über das Parlament zu wählen, sondern ein Referendum abzuhalten, dessen Erfolg angesichts der Umfrageergebnisse gesichert zu sein scheint. Als Termin wird der 20. September 1992 festgelegt. Somit hätte sich eine günstige Gelegenheit geboten, eine ausgedehnte Debatte über die Zielsetzungen und Modalitäten des europäischen Einigungswerks zu führen und der französischen Öffentlichkeit das Europa der Zwölf und seine Institutionen und Errungenschaften näherzubringen. Angesichts der Komplexität des Gemeinschaftssystems war dies jedoch ein schwieriges Unterfangen. Der Vertrag von Maastricht, von dem jedem Wahlberechtigten ein Exemplar zugestellt wird, ruft Ratlosigkeit bei der Mehrzahl derjenigen – und es sind wenige - hervor, die sich mit seiner Lektüre versucht haben. Die vielfach überzogenen Kritiken der Gegner des Vertrags und der europäischen Integration tun ihr Übriges. Beim Referendum am 20. September 1992 fällt die Wahlbeteiligung mit 69 % der eingetragenen Wähler hoch und die Zustimmung mit 51,04 % knapp aus.


In Deutschland werden Bedenken über die gemeinsame Währung und die damit einhergehende Abschaffung der D-Mark, die als Instrument und Symbol der deutschen Wirtschaftskraft betrachtet wird, sowie mit Blick auf die Tragweite der Nein-Stimmen beim Referendum in Frankreich und die Übertragung bestimmter Befugnisse der Bundesländer auf Brüssel laut. Am 2. Dezember stimmt der Bundestag der Ratifizierung anlässlich einer Revision des Grundgesetzes, das mit dem Vertrag in Einklang gebracht werden soll, mit überwältigender Mehrheit zu. Die Hinterlegung der Ratifikationsurkunden wird allerdings durch mehrere Klagen beim Bundesverfassungsgericht verzögert, das in seinem Urteil vom 12. Oktober 1993 die Vereinbarkeit des Vertrags mit dem Grundgesetz bestätigt, allerdings der Entwicklung der Europäischen Union mit dem Hinweis, dass keine weiteren Befugnisse verlagert und keine eigenen Steuern erhoben werden können, gewisse Grenzen setzt und darauf verweist, dass das Europäische Parlament nicht über ausreichende Zuständigkeiten und Legitimität verfügt.


Zu guter Letzt tritt der Vertrag von Maastricht am 1. November 1993 in Kraft.


Mit dem Amtsantritt von Staatspräsident Jacques Chirac im Jahre 1995 setzt für die deutsch-französischen Beziehungen eine Durststrecke ein, obgleich Frankreich und Deutschland in dieser Zeit stets darum bemüht sind, in europäischen Angelegenheiten eine gemeinsame Linie zu verfolgen.


Zunächst im Bereich der gemeinsamen Währung als grundlegendem Bestandteil des Vertrags von Maastricht. Das deutsch-französische Einvernehmen in Grundsatzfragen besteht nicht im gleichen Maße bei den Zielsetzungen. Für Frankreich soll der Euro als Instrument einer neu-keynesianischen Konjunkturpolitik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dienen, während Deutschland dafür Strukturreformen vorsieht und die Währungspolitik neutral und von den Regierungen unabhängig halten will. Während Frankreich der Europäischen Zentralbank (EZB) eine „Wirtschaftsregierung“ gegenüberstellen will, lehnt Deutschland dies im Namen der Unabhängigkeit der Bank ab. Letzten Endes stimmt Deutschland lediglich einer informellen Gruppe der Finanzminister der Staaten des Euro-Währungsgebiets zu, die ausschließlich zu Konsultationen zusammenkommen soll, während die Entscheidungen weiterhin von allen Mitgliedstaaten im Rat „Wirtschaft und Finanzen“ getroffen werden.


Einen weiteren Anlass für Meinungsverschiedenheiten bietet die Annahme eines „Stabilitätspakts“, der im Jahr 1995 von Deutschland angeregt wird, um die Mitgliedstaaten auch nach ihrem Beitritt zum Euro-Währungsgebiet zur Einhaltung der Maastricht-Kriterien zu bewegen. Andernfalls befürchten die Deutschen, zu Finanztransaktionen und einer Erhöhung des Gemeinschaftshaushalts gezwungen zu werden. Die Franzosen und insbesondere die sozialistische Regierung sehen darin ein Hindernis für einen Konjunkturaufschwung. Letzten Endes stimmen sie jedoch zu, nachdem Chirac die Bezeichnung auf „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ erweitert und erwirkt hat, dass die Sanktionen gegen säumige Länder nicht automatisch erfolgen, sondern durch den Rat beschlossen werden. Ironischerweise findet das deutsch-französische Tandem wieder zusammen, um eine „Aussetzung“ des Paktes durch den Rat am 28. November 2003 zu erlangen, weil es den beiden Ländern nicht gelingt, ihre Staatsdefizite unter die Marke von 3 % zu bringen.


Mit Blick auf die EZB geraten Chirac und Kohl schließlich aneinander, weil ersterer eine Verkürzung der Amtszeit des niederländischen Präsidenten Wim Duisenberg zugunsten des Präsidenten der französischen Zentralbank (Banque de France) Jean-Claude Trichet fordert und damit die Position des Bundeskanzlers vor den Bundestagswahlen, die er verlieren sollte, schwächt.


Die Meinungsverschiedenheiten machen sich auch auf dem Europäischen Rat in Berlin am 24.und 25. März 1999 bemerkbar. Zwischen den beiden Ländern kommt es zu Divergenzen in der Frage des Gemeinschaftshaushalts. Deutschland setzt sich als wichtigster Nettozahler für eine Reduzierung der GAP-Ausgaben ein, was Frankreich als Hauptbegünstigter ablehnt. Es kommt zu starken Spannungen auf der Berliner Ratstagung, die unter dem Vorsitz des neu gewählten Bundeskanzlers Gerhard Schröder stattfindet, der sich dem Druck Chiracs zugunsten eines Erhalts der Gemeinschaftsbeihilfen für Landwirte beugen muss. Die beiden Staatsmänner einigen sich auf dem Europäischen Rat von Brüssel (24.-25. Oktober 2002) auf eine Kompromisslösung. Chirac kann die Unantastbarkeit der Agrarausgaben bis 2013 durchsetzen, die allerdings ungeachtet der Erweiterung von 15 auf 27 Mitgliedstaaten gedeckelt werden, auch auf die Gefahr hin, dass der Beihilfeanspruch der neuen Mitgliedstaaten begrenzt wird. 2003 gelingt es Chirac, die von der Kommission vorgelegte GAP-Reform, die eine Entkopplung der Direktzahlungen von der Produktion vorsieht, durch Ausnahmeregelungen abzuschwächen. In diesem Fall wird er von Schröder unterstützt, der sich für die deutschen Landwirte einsetzt.


Die ausgehenden 1990er Jahre stehen insbesondere unter dem Zeichen der Einleitung des historischen Erweiterungsprozesses der Europäischen Union um die Länder Mittel- und Osteuropas (MOEL) sowie Maltas und Zyperns. Dies ist das Ergebnis der entscheidenden Reformen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systeme der Länder des „Ostens“, die das kommunistische Joch abgeschüttelt haben. Diese Zeit markiert auch das Ende der Kluft zwischen den beiden Teilen Europas, die der Kalte Krieg und die Berliner Mauer seit Ende des Zweiten Weltkriegs voneinander getrennt hatten. Seit 1998 werden Verhandlungen mit den zwölf beitrittswilligen Ländern geführt, die mit allen beitrittsfähigen Ländern bis Ablauf des Jahres 2002 zum Abschluss gebracht werden sollen. Allerdings ist noch nicht geklärt, welche Rolle die neuen Mitgliedstaaten in den Institutionen (Stimmgewichtung im Rat, Anzahl der Vertreter in der Kommission, im Parlament und in den Beratenden Ausschüssen) einnehmen werden. Bei den bisherigen Erweiterungsrunden war es in dieser Frage nicht zu größeren Schwierigkeiten gekommen, doch in diesem Fall geht es um den Beitritt von zwölf Ländern und die Erweiterung der Union von 15 auf 27 Mitgliedstaaten. Eine derart einschneidende quantitative wie qualitative Veränderung erfordert eine institutionelle Reform, mit der die Gefahr des Stillstands ausgeschlossen werden und die Erweiterung auf dem gesamten Kontinent zum Erfolg geführt werden kann. Das Aufgabenspektrum ist dementsprechend umfangreich. Im Zuge der Verhandlungen kommt es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und Frankreich in der Frage der Erweiterung, weil sich der Bundeskanzler offener für die Interessen seines eigenen Landes einsetzen und die Rolle Deutschlands auf internationaler Ebene stärken will.


Auf dem deutsch-französischen Gipfel von Vittel am 10. November 2000 kommen neben dem gemeinsamen Wunsch nach einer Ausweitung der qualifizierten Mehrheit im Rat insbesondere die Divergenzen in der Frage der Stimmgewichtung und der Berücksichtigung der Einwohnerzahl sowie bezüglich der Anzahl der Kommissionsmitglieder zum Tragen, die Frankreich im Sinne einer größeren Handlungsfähigkeit reduzieren will, während sich Deutschland für eine zahlenmäßig starke Kommission und einen Ausgleich durch eine Stärkung der Befugnisse des Parlaments einsetzt, was wiederum von Frankreich abgelehnt wird. Mit Blick auf die Zukunft der EU stimmt Deutschland dem französischen Standpunkt zu, das Thema nicht zu diesem Zeitpunkt anzugehen, besteht allerdings darauf, dass der Europäische Rat die Einleitung entsprechender Verhandlungen beschließen soll. An der Seite der beiden Streitparteien können die übrigen großen Ländern ihren Einfluss kaum geltend machen. Darüber hinaus wird der französische Vorsitz durch die Kohabitation geschwächt, aufgrund derer Frankreich keinen gemeinsamen Standpunkt vertritt, weil der Staatspräsident und der Premierminister unterschiedliche Prioritäten verfolgen. Lionel Jospin liegen insbesondere die Grundrechtecharta und die Sozialagenda am Herzen, während Jacques Chirac hauptsächlich mit den institutionellen Problemen befasst ist. Chirac führt die Verhandlungen mit einer Entschlossenheit und Autorität, die bisweilen als „arrogant“ empfunden wird und eher der Verteidigung der französischen Interessen als der Suche nach einer für alle zufriedenstellenden Lösung dient.


Erst zum Abschluss der französischen Ratspräsidentschaft, auf dem Gipfel von Nizza am 7., 8. und 9. Dezember 2000, wird der Europäische Rat über die Reform des Vertrags über die Europäische Union entscheiden: dieser Gipfel war, insbesondere aufgrund der leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den Regierungen über die institutionelle Reform, der längste Gipfel, der jemals stattgefunden hatte.


Die Verhandlungen geraten in eine Sackgasse, als sich der Europäische Rat mit der Frage der Vertretung der Mitgliedstaaten in den Organen nach der Erweiterungsrunde befasst. Dabei geht es um das komplizierte Gleichgewicht zwischen den Organen sowie insbesondere um die Stellung der Mitgliedstaaten in den einzelnen Institutionen und damit um ihren politischen Einfluss und ihre Einspruchsmöglichkeiten innerhalb der Europäischen Union. Während das grundsätzliche Ziel darin besteht, die Wirksamkeit des Entscheidungsprozesses auch mit einer größeren Zahl von Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sind die Regierungen hauptsächlich damit beschäftigt, nach Möglichkeiten zu suchen, ihre nationalen Interessen geltend zu machen. Der Ton in den Debatten gerät umso rauer, als es sich um ein globales „Paket“ handelt, das das Ergebnis von Feilschereien und Kompromisslösungen ist. Dem zugrunde liegt die Vision einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten, bestehend aus den 15 aktuellen Mitgliedstaaten und den 12 Ländern, mit denen Verhandlungen geführt werden.


So kann mit Blick auf die Zusammensetzung der Kommission nur eine partielle Einigung erzielt werden. Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac setzen sich im Sinne von Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit für eine nicht zu stark besetzte Kommission ein. Zu diesem Zweck verzichten Deutschland und Frankreich sowie Italien, das Vereinigte Königreich und Spanien auf ihr zweites Kommissionsmitglied, um die Anzahl der Kommissare zu reduzieren. Allerdings bestehen die „kleinen“ Mitgliedstaaten sowie die beitrittswilligen Länder darauf, jeweils einen Vertreter in die Kommission zu entsenden. Aus Prestigegründen legen alle Mitgliedstaaten Wert darauf, dass ihr Land mit einem Mitglied in der Kommission vertreten ist.


So sieht der Vertrag vor, dass die fünf „Großen“, wie alle übrigen Mitgliedstaaten auch, ab dem 1. Januar 2005 nur noch über ein Kommissionsmitglied verfügen. Mit dem Beitritt erwirbt jeder neue Mitgliedstaat den Anspruch, ein Kommissionsmitglied zu stellen. Erst nach dem Beitritt des 27. Mitgliedstaats beschließt der Rat einstimmig über die Anzahl der Kommissionsmitglieder. Demzufolge wurde das Problem einer überbesetzten Kommission nicht in Nizza gelöst.


Für das Europäische Parlament war im Vertrag von Amsterdam eine Obergrenze von 700 Mitgliedern festgelegt worden. Während das Parlament der 15 über 626 Sitze verfügte, würden in einer Union der 27 insgesamt 732 Sitze erforderlich sein. Aus diesem Grund wird die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments, die aus den alten Mitgliedstaaten stammen, reduziert. Lediglich Deutschland behält die 99 Sitze, die dem Land nach der Wiedervereinigung für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 1994 zugestanden worden waren.


Die Verhandlungen über eine Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsbeschlüsse im Rat gehen nur schleppend voran. Die großen Mitgliedstaaten wollen an der Einstimmigkeit und damit am Vetorecht in Bereichen, die sie für ihr jeweiliges Land als ausgesprochen wichtig erachten, festhalten. So steht Bundeskanzler Gerhard Schröder, der bisher ein großer Verfechter der Mehrheitsbeschlussfassung gewesen war, einer Ausweitung inzwischen zurückhaltender gegenüber, was auf den Widerstand der Bundesländer gegen einen Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf ihre Befugnisse, insbesondere in den Bereichen Einwanderung, Visa, Asylrecht, Kultur und Umwelt, zurückzuführen ist. Den Bundesländern wurde mit der Änderung des Grundgesetzes des Jahres 1993 ein Recht auf Mitentscheidung bei Beschlüssen der Bundesregierung in europäischen Angelegenheiten zugesprochen, wodurch sich eine Aufrechterhaltung des Vetorechts als notwendig erweist.


Das hauptsächliche Problem bei der Durchführung von mit qualifizierter Mehrheit angenommenen Beschlüssen liegt in der Stimmgewichtung im Ministerrat, d. h. bei der Aufteilung der Stimmen zwischen den Mitgliedstaaten. Diese Frage wird auf dem Europäischen Rat als letztes erörtert und führt zu besonders harten Auseinandersetzungen, weil es für die Mitgliedstaaten um ihren Einfluss auf qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse geht. Die großen Mitgliedstaaten befürchten, dass sie mit dem Beitritt der 12 neuen mittelgroßen und kleinen Mitgliedstaaten (mit Ausnahme Polens) in eine Minderheitenposition gedrängt werden könnten. Frankreich und Deutschland haben im Übrigen ihren Verzicht auf jeweils zwei Kommissionsmitglieder von einer Neugewichtung ihres Stimmanteils im Ministerrat abhängig gemacht.


Die Kommission hat eine einfache Lösung vorgeschlagen, die darin besteht, dass ein Beschluss nur dann als angenommen gilt, wenn dadurch die Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Mehrheit der Bevölkerung der Union repräsentiert wird. Dies wäre für Deutschland von großem Interesse, weil es seinen Einfluss auf diese Weise steigern könnte. Allerdings wird an diesem Grundsatz der doppelten Mehrheit, der für die Bürger einfach und nachvollziehbar ist, nicht festgehalten, weil dadurch das etablierte Gleichgewicht zwischen den alten Mitgliedstaaten zu sehr in Mitleidenschaft gezogen würde. Dennoch muss den ungleichen Bevölkerungszahlen Rechnung getragen werden. Jacques Chirac hingegen setzt sich dafür ein, dass die Parität zwischen Frankreich und Deutschland als politischer Grundsatz, der seit der Gründung der Gemeinschaften befolgt worden ist, Bestand hat, während das wiedervereinigte Deutschland diesen Grundsatz inzwischen in Frage stellt, weil es bereits von einer stärkeren Vertretung im Europäischen Parlament profitiert hat und nun einen größeren Stimmanteil im Rat als die übrigen großen Mitgliedstaaten fordert. Derartigen Plänen widersetzt sich Jacques Chirac trotz des demografischen Ungleichgewichts (82 Millionen Deutsche gegenüber 59 Millionen Franzosen). Er ist entschlossen, Frankreich und Deutschland jeweils 29 Stimmen zuzuteilen.


Die Gesamtzahl der Stimmen beträgt damit für insgesamt 27 Mitgliedstaaten 345 und die qualifizierte Mehrheit liegt bei 285 Stimmen, wenn es sich um einen Beschluss auf Vorschlag der Kommission handelt. In allen anderen Fällen muss die Mehrheit von 258 Stimmen dem Votum von mindestens zwei Dritteln der Mitgliedstaaten entsprechen. Die Schwelle für eine qualifizierte Mehrheit der 27 liegt bei etwa 74 % und damit über der bisherigen Marke der 15, wodurch sich die Beschlussfassung erschwert. Ferner hat Deutschland eine dritte Bedingung durchgesetzt, damit seine hohe Bevölkerungszahl Berücksichtigung finden: Ein Mitglied des Rates kann beantragen, dass bei einem Beschluss mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob die Mitgliedstaaten, die diese qualifizierte Mehrheit bilden, mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung der Union ausmachen. Falls diese Bedingung nicht erfüllt ist, wird der Beschluss nicht angenommen.


Die Beschlussfassung in der erweiterten Union wird folglich mit dem Vertrag von Nizza nicht erleichtert, sondern erschwert, weil darin drei Bedingungen festgelegt werden: die gewichtete Mehrheit der Stimmen, die zahlenmäßige Mehrheit der Mitgliedstaaten und die Mehrheit der Bevölkerung der Union. Diese Bestimmungen werden auf dem Europäischen Rat erst angenommen, als die lebhaften Debatten vorüber sind und am 11. Dezember, einem Montag, morgens um 4.20 Uhr eine allgemeine Müdigkeit um sich greift. Dies ist auch der Grund für die ungenauen Zahlenangaben, die sich bisweilen aufgrund von in letzter Minute erteilten Zugeständnissen widersprechen. Die Diplomaten benötigen noch ein wenig Zeit, um den endgültigen Text zu verfassen, der erst am 26. Februar 2011 unterzeichnet wird.


Es steht zwar außer Frage, dass der Vertrag von Nizza die Erweiterung ermöglicht, indem er die Stellung der neuen Mitgliedstaaten innerhalb der Organe und Einrichtungen der Europäischen Union festlegt. Allerdings wurden die zentralen Fragen über die Zukunft der Union nicht erörtert, und es hat sich einmal mehr gezeigt, welche Unzulänglichkeiten mit der Methode der Regierungskonferenz verbunden sind.


Aus diesem Grund ist dem Vertrag, wie von Deutschland gefordert, eine „Erklärung über die Zukunft der Union“ angefügt, in der die schwedische und die belgische Ratspräsidentschaft des Jahres 2001 damit beauftragt werden, eine umfassende Debatte durchzuführen und darüber im Dezember 2001 auf dem Europäischen Rat von Laeken (Brüssel) zu berichten, auf dem die erforderlichen Maßnahmen ergriffen werden, um eine Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (als Forderung der Bundesländer) vorzunehmen, den Status der Grundrechtecharta festzulegen, die Verträge zu vereinfachen und die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der institutionellen Architektur Europas zu bestimmen. Tatsächlich bemüht sich Deutschland seit Beginn des Jahres 2001 um eine Neubelebung der Debatte über die Zukunft der Union, was Frankreich für verfrüht hält, und Bundeskanzler Schröder spricht sich am 30. April für eine stärkere Integration aus.


Obgleich sich die französische Regierung dazu beglückwünscht, einen Kompromiss erzielt zu haben, der den Beitritt neuer Mitgliedstaaten ermöglicht, bricht über den amtierenden Vorsitzenden des Rates der Europäischen Union, Jacques Chirac, der dem Europäischen Parlament den Vertrag am 12. Dezember 2000 präsentiert, heftige Kritik vonseiten der Fraktionsvorsitzenden und von Kommissionspräsident Romano Prodi herein. Das Parlament begrüßt die Bestimmungen des Vertrags über die Kommission und die verstärkte Zusammenarbeit, bedauert hingegen die Nichtaufnahme der Grundrechtecharta der Europäischen Union in den Vertrag, die Einschränkungen für die Ausweitung der Mitentscheidung Rat-Parlament, die Überschreitung der Gesamtzahl von 700 Mitgliedern des Europäischen Parlaments im künftigen erweiterten Europa sowie die Aufteilung der Sitze auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Das Europäische Parlament nimmt am 14. Dezember eine Entschließung an, in der es den Regierungen zum Vorwurf macht, dass sie „eher ihren kurzfristigen nationalen Interessen als den Interessen der Europäischen Union Vorrang eingeräumt haben“. Der Vertrag von Nizza wird am 26. Februar 2001 nach Prüfung aller Zahlenangaben durch die Diplomaten unterzeichnet und tritt am 1. Februar 2003 in Kraft.


Letzten Endes ist es Deutschland nicht gelungen, die wenigen Stimmen, oder sogar die eine symbolische Stimme, die es im Rat aufgrund seiner hohen Einwohnerzahlen gefordert hat, zu erhalten, doch mit der erforderlichen Mehrheit von 62 % der Unionsbevölkerung bei Ratsbeschlüssen mit gewichteter Mehrheit kann diese Besonderheit schließlich doch Berücksichtigung finden. Darüber hinaus wurde für Deutschland als einzigem Mitgliedstaat die Zahl der Mitglieder im Europäischen Parlament – die bereits nach der Wiedervereinigung erhöht worden war – im Zuge des Übergangs von 15 zu 27 Mitgliedstaaten nicht gesenkt. Vor allem Deutschland hat sich sehr entschieden dafür eingesetzt, den Weg der politischen Integration weiter zu beschreiten, indem es die Einberufung einer weiteren Regierungskonferenz fordert. Frankreich dagegen kann zwar eine formale Parität mit Deutschland aufrechterhalten, sieht seine Position jedoch geschwächt, weil es den Eindruck erweckt, am Status Quo festhalten zu wollen, ohne Zukunftsvisionen präsentieren zu können, wie dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Alles in allem ist das deutsch-französische Duo seiner Rolle des Impulsgebers nicht gerecht geworden und bedarf einer Wiederbelebung.


Nach dem Gipfel von Nizza sind führende deutsche und französische Politiker darum bemüht, ihre guten Beziehungen zu erneuern, ihre Positionen anzunähern und wieder mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen. Bereits am 30. Januar 2001 erklärt der deutsche Außenminister Joschka Fischer: „Die Vollendung der europäischen Integration […] kann und wird nur gelingen, wenn Frankreich und Deutschland sie zu ihrer gemeinsamen Sache machen“. Die Antwort des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac folgt am 21. Februar. Darin verweist er auf die notwendige Fähigkeit der beiden Länder, das europäische Ganze voranzubringen. Tatsächlich ist es das Einvernehmen zwischen den beiden Ländern, das die Einrichtung des Konvents über die Zukunft Europas ermöglicht, der den Verfassungsentwurf für die nächste Regierungskonferenz, die 2004 stattfinden soll, erarbeitet.

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