Die Rolle der Gewerkschaften und die EWG-Bestimmungen im sozialen Bereich
Die Rolle der Gewerkschaften und die sozialen Bestimmungen des EWG-Vertrags
Seitdem der europäische Integrationsprozess im Jahre 1955 wieder aufgenommen wurde, verfolgen die Gewerkschaften die Verhandlungen zwischen den sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit großen Interesse. Denn die Gewerkschaftsbewegung fühlt sich direkt von der europäischen Frage betroffen. Bereits 1950 hat der Internationale Bund freier Gewerkschaften (IFBG) eine europäische Regionalorganisation (ERO) ins Leben gerufen, bevor der „21-er Ausschuss“ geschaffen wird, in dem die Gewerkschaftsdachverbände der Bundesrepublik Deutschland (BRD), Belgiens, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande vertreten sind, sowie die Metall- und Bergarbeitergewerkschaften und je ein Vertreter der ERO und der betroffenen internationalen Berufsgewerkschaften. Die Gewerkschaftsorganisationen nehmen somit, ebenso wie die Arbeitgeberverbände und die Verbraucherverbände, an den Arbeiten des Beratenden Ausschusses teil, der von 1952 an die Hohe Behörde der EGKS bei ihrer sektorbezogenen Arbeit unterstützt. Kaum haben die Sechs ihre Diskussionen aufgenommen, lässt die Allgemeine Belgische Gewerkschaft (FGTB) den belgischen Außenminister und Vorsitzenden des von der Konferenz von Messina eingesetzten Regierungsausschusses, Paul-Henri Spaak, wissen, dass jeder Fortschritt in Richtung der Wirtschaftsintegration zur Bildung paritätischer Ausschüsse und eines allgemeinen paritätischen Ausschusses führen müsse, deren Schlussfolgerungen die verpflichtende Wirkung von Tarifverträgen in allen Staaten des Gemeinsamen Marktes hätten. Von diesem Augenblick an verleiht die Gewerkschaftsbewegung ihrer Forderung nach einer förmlichen Garantie der Harmonisierung des technischen Fortschritts im Vertrag Ausdruck, der sich in der Ausarbeitung befindet.
Am 14. September 1955, nur knapp drei Monate nach der entscheidenden Konferenz von Messina, veröffentlicht der Internationale Bund Christlicher Gewerkschaften (IBCG) ein Manifest zur europäischen „Relance“. Dieses Manifest wird den Außenministern der Sechs einige Tage später übermittelt. Überzeugt, dass nur die Übertragung echter Befugnisse an die europäischen Institutionen eine wirksame Lösung für die Probleme der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa bieten kann, fordert der IBCG die gleichberechtigte Teilnahme seiner Mitglieder an den Arbeiten des Spaak-Ausschusses. Dieser Forderung wird jedoch nicht nachgegeben. Der IBCG betrachtet den Gemeinsamen Markt als den Kern einer supranationalen europäischen Gemeinschaft, die für die Angleichung der sozialen Bedingungen und die Förderung der Arbeiter durch Vollbeschäftigung und Mobilität der Arbeitskräfte sorgen soll. Am 18. Mai 1956 begrüßt der IBCG im Vorfeld der Konferenz von Venedig den Spaak-Bericht, der sich für die Einrichtung eines allgemeinen gemeinsamen Marktes und eine Atomgemeinschaft in Europa ausspricht. Der IBCG betont, dass die Organe des Gemeinsamen Marktes über weit reichende Befugnisse verfügen müssen, um eine gemeinschaftliche Sozialpolitik zu schaffen, die gleichberechtigt von den Gewerkschaften und den Arbeitgebern erstellt wird und die sich nicht sich nicht ausschließlich der Wirtschaftspolitik unterordnet. Entschlossen, die Teilnahme der Arbeitnehmer an der Verwaltung des Gemeinsamen Marktes zu erreichen, kritisiert der IBCG heftigst den fehlenden Ansatz eines Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA) im Spaak-Berich, der ein Initiativrecht besitzen würde und zu jeder wichtigen Frage gehört werden müsste. Tatsächlich richtet der IBCG während der gesamten Verhandlungsphase in Brüssel und danach in Val Duchesse eine Reihe ausführlicher Vermerke an den Vorsitz, das Sekretariat und die Fachleute der Regierungskonferenz. Damit unterstreicht er noch einmal sein Festhalten an den Forderungen nach den sozialen Befugnissen der zukünftigen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), nach der Einrichtung eines Investitionsfonds und eines Rehabilitationsfonds für Arbeitslose sowie danach, dass die Arbeit Euratoms ausschließlich friedlichen Zwecken dienen soll.
Der Internationale Bund freier Gewerkschaften (IBFG) bleibt seinerseits auch nicht tatenlos. Im Januar 1957, als die Verhandlungen von Val Duchesse in ihre Endphase eintreten, verfasst er je ein Memorandum zu den Entwürfen der EWG- und Euratom-Verträge. Der IBFG unterstreicht noch einmal seine Überzeugung, dass die zukünftige EWG einen gesunden Wettbewerb herstellen oder fördern muss, indem sie eine rationale Arbeitsteilung fördert und die für eine Massenproduktion erforderlichen Bedingungen schafft. In institutioneller Hinsicht spricht sich der IBFG für ein Initiativrecht und ein quasi Mitentscheidungsrecht der Versammlung aus. Er hält es ebenfalls für unverzichtbar, dass ein Sitz in der EWG-Kommission und im Gerichtshof in einem Kooptationsverfahren für einen Vertreter der Gewerkschaftsbewegung vorbehalten würde. Der WSA soll ein Initiativrecht erhalten, und der IBFG fordert, dass die Gemeinschaft über Eigenmittel verfügt, die über Sondersteuern oder eine Direktabgabe unabhängig von den Haushalten der Gemeinschaft finanziert werden. Außerdem steht die Einrichtung eines Europäischen Fonds für Berufsausbildung und die Mobilität der Arbeitnehmer ganz oben auf der Liste der Forderungen des IBFG.
Die Gewerkschaften sind ebenfalls über das Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa direkt an den Debatten um die europäische „Relance“ beteiligt. Dieses Komitee war im Oktober 1955 in Paris von dem ehemaligen Präsidenten der Hohen Behörde, Jean Monnet, nach seinem Rücktritt von diesem Amt gegründet worden. Sein Ziel war es, Entscheidungsträger aus Politik und Gewerkschaften, die die europäische Einigung befürworteten, zusammenzubringen und so das Vorhaben eines föderalen Europas in den Parlamenten und der Öffentlichkeit gegenüber besser zu fördern.
Über die Erklärungen und Resolutionen des Monnet-Komitees können die Gewerkschaftsorganisationen ihren Standpunkt zu den wirtschaftlichen und sozialen Themen der europäischen Relance zum Ausdruck bringen und diskutieren.
Neben dem entschlossenen Vorgehen der Gewerkschaften verleihen auch die Forderungen der französischen Regierungen den Fragen der sozialen Harmonisierung im Rahmen der EWG politische Brisanz. Diese Forderungen betreffen die Gleichwertigkeit der Systeme bezahlten Urlaubs, die Regelungen zur Arbeitsdauer und zur Bezahlung von Überstunden. Was schließlich Eingang in ein Protokoll über bestimmte Vorschriften betreffend Frankreich im Anhang an den EWG-Vertrag findet. Ungeachtet all ihrer Bemühungen kann die französische Delegation in Val Duchesse nicht erreichen, dass ein Teil ihrer Forderungen nach sozialer Harmonisierung in den Vertrag aufgenommen werden; eine Bedingung, an die die Gewerkschaften und Arbeitnehmerorganisationen ihre Unterstützung bei den Ratifizierungsdebatten in der Nationalversammlung geknüpft haben. Im Vertrag zur Gründung der EWG erklären die Mitgliedstaaten sich über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen.
Sie sind der Auffassung, daß sich eine solche Entwicklung sowohl aus dem eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Gemeinsamen Marktes als auch aus den im Vertrag vorgesehenen Verfahren sowie aus der Angleichung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergeben wird.
Die Kommission als Organ der Gemeinschaft erhält die Aufgabe, eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in sozialen Fragen zu fördern, insbesondere auf dem Gebiet der Beschäftigung, des Arbeitsrechts und der Arbeitsbedingungen, der beruflichen Ausbildung und Fortbildung, der sozialen Sicherheit, der Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten, des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit, des Koalitionsrechts und der Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.