Die Anfänge des europäischen Aufbauwerks (1948-1966)

Die europäische Einigung und die Politik der Freiheit (1948-1966)


Zurückgekehrt aus dem skandinavischen Exil, arbeitete Brandt als Berichterstatter in norwegischen Diensten, bevor er 1948 die deutsche Staatsbürgerschaft annahm und begann, sich in Berlin als Politiker zu etablieren. Seine Aufmerksamkeit galt zunächst dem innerparteilichen Machtkampf um die Nachfolge des regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter und seiner Tätigkeit als Abgeordneter des Deutschen Bundestags, in den er 1949 und erneut 1953 für die SPD einzog. Darüber hinaus aber bezog Brandt politisch und publizistisch Stellung zu den bundespolitisch wichtigen Fragen der Zeit: zur Wiederbewaffnung, zur Westintegration und allgemein zur außenpolitischen Orientierung Deutschlands. Anders als seine Partei erkannte er bald die Notwendigkeit, die Realität der Teilung vorläufig zu akzeptieren und die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Wiedereingliederung Westedeutschlands im Rahmen des westlichen Bündnisses zu vollziehen. Die SPD stellte sich unter der Führung ihres Vorsitzenden Kurt Schumacher skeptisch bis ablehnend gegen die von der Regierung Adenauer betriebene Politik der Westbindung. Abgesehen von der Sorge, über die Westbindung könne das im Grundgesetz verankerte Ziel der deutschen Einheit aus den Augen verloren werden, verurteilte Schumacher den supranationalen Zusammenschluss als einen „konservativ-, klerikal-, kapitalistisch-kartellistischen“ Versuch, „ein Europa zu schaffen, das aus seiner kapitalistischen Struktur und seinem Mangel an Demokratismus und sozialer Potenz ein leichtes Opfer des östlichen Ansturms wäre.“ Brandt unterstützte in dieser Frage die Position des sog. „Bürgermeister-Flügels“ der SPD. Die populären Bürgermeister der Stadtstaaten Bremen (Wilhelm Kaisen) Hamburg (Max Brauer) und Berlin (Ernst Reuter) forderten den Kurs des Parteivorsitzenden heraus, indem sie sich für die Westbindung aussprachen. Den aufstrebenden Jungpolitiker Brandt zwangen die parteipolitischen Kräfteverhältnisse allerdings dazu, seine Opposition gegen den europapolitischen Kurs der Parteiführung zu moderieren und in verklausulierter, abwägender Form vorzubringen. So enthielt sich Brandt auf dem Bundesparteitag im Mai 1950 der Stimme und gehörte nicht zu den wenigen Delegierten, die gegen die ablehnende Resolution des Vorstands gegen den Schuman-Plan stimmten.


Abgesehen von parteipolitischen Überlegungen war Brandts Beurteilung der einzelnen Integrationsschritte durchaus differenziert. Die Teilnahme der Bundesrepublik am Europarat befürwortete er, wenngleich er auch Einwände geltend machte. Sie betrafen die Teilnahme der französisch kontrollierten Saar und die Konstruktion des Rats, die seiner Ansicht nach unvollkommen war. Auch den Schuman-Plan (1950) und die Teilnahme der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl begrüßte Brandt nicht einhellig. Er kritisierte die Exklusivität des Zusammenschlusses der „Sechs“ und sah die Gefahr, die einseitige Westbindung könne einen Rückschritt für das Ziel der deutschen Wiedervereinigung bedeuten. Doch überwogen seiner Ansicht nach die wirtschaftlichen und politischen Vorteile einer engen Verflechtung der jungen Bundesrepublik mit dem Westen. Überwiegend skeptisch war Brandts Haltung dagegen zu dem 1952 vom französischen Verteidigungsminister René Pleven vorgestellten Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, die er als notwendig unterstützte, sah Brandt in der NATO besser aufgehoben. In dem Scheitern des Projekts durch das negative Votum der französischen Nationalversammlung (1954) konnte er daher nicht, wie andere, eine schwarze Stunde Europas erkennen.


Aus Brandts Haltung zu den ersten Integrationsschritten geht einerseits die später in den Erinnerungen formulierte Hoffnung hervor, dass „Europa sich zusammenfinden und politische Kraft ausstrahlen möge“. Andererseits wird in diesen Jahren bereits jener Pragmatismus gegenüber dem europäischen Einigungsprojekt deutlich, der Brandts Denken und Handeln auch in seiner weiteren politischen Karriere prägen sollte.


Was das angespannte Verhältnis zur eigenen Partei in der Frage des westlichen Bündnisses angeht, so konnte Brandt mit Befriedigung feststellen, dass sich der von ihm befürwortete Kurs gegen Ende der 1950er Jahre durchsetzte. Unter dem Nachfolger Kurt Schumachers, Erich Ollenhauer, begann sich die Partei langsam von der ablehnenden Einstellung gegen die Westbindung zu lösen. Die vernichtende Niederlage in den Bundestagswahlen 1953 hatte der Partei die Unhaltbarkeit ihres europafeindlichen Kurses deutlich vor Augen geführt. Zwar insistierte Ollenhauer auf dem SPD-Parteitag im Juli 1954 weiterhin auf dem Zusammenhang zwischen deutscher Einheit und europäischer Einigung. Bei der Abstimmung über die Römischen Verträge im Bundestag 1957 stellte sich aber bereits eine Mehrheit der Sozialdemokraten hinter den Kurs der Regierung Adenauer und stimmten mehrheitlich zu. Dass sich einige Sozialdemokraten, unter ihnen der spätere Minister und Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Stimme enthielten, war als Kritik an der Exklusivität des „Sechserclubs“ und insbesondere an der Nichtteilnahme Großbritanniens und der skandinavischen Staaten.


Mit der Verabschiedung des Parteiprogramms von Bad Godesberg 1959 gab die Partei endgültig ihren Widerstand gegen die Westorientierung der Bundesrepublik auf. Die europäische Einigung wurde nun als notwendige Grundlage für die Sicherung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts anerkannt. Herbert Wehner, damals stellvertretender Partei- und Fraktionsvorsitzender, verkündete 1960 im Bundestag, die SPD akzeptiere die Westbindung uneingeschränkt als Grundlager deutscher Außen- und Deutschlandpolitik. Von Berlin aus hatte Brandt in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre maßgeblich dazu beigetragen, die Haltung der Sozialdemokraten zur Europapolitik zu ändern. Die Differenzen über den europapolitischen Kurs der SPD wahrten indes bis Beginn der 1960er Jahre, als Brandt – mittlerweile Regierender Bürgermeister von Berlin und einer der führenden Außenpolitiker seiner Partei – 1961 zum Kanzlerkandidaten avancierte und 1964 auch den Parteivorsitz übernahm. Unter der neuen Führungsriege, zu der auch Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Fritz Erler gehörten, etablierte sich die SPD sowohl innenpolitisch als auch gegenüber den europäischen und atlantischen Partnern als ernstzunehmender Ansprechpartner und langfristig als Regierungsalternative. Unter den europäischen Schwesterparteien genossen die deutschen Sozialdemokraten bald den Ruf einer vorbildlich reformorientierten Partei. Innenpolitisch entwickelte sich ein Dialog mit der CDU und ihrem Koalitionspartner der FDP, in deutschland- außen- und europapolitischen Fragen. Ein Ergebnis dieses „Gemeinsamkeitskurs“ zwischen Regierung und Opposition, war die gemeinsam von Bundestag und Bundesrat erarbeite Präambel zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag 1963, in der die Loyalität der Bundesrepublik zum Atlantischen Bündnis unterstrichen wurde. Brandt, der in seiner Funktion als Sprecher des Auswärtigen Ausschusses des Bundesrats an der Ausarbeitung der Präambel „moderierend“ beteiligt war, hatte kurz darauf die undankbare Aufgabe, dem französischen Staatspräsidenten, General de Gaulle, die Entscheidung des Parlaments zu erläutern. Der General, der den Vertrag im Alleingang mit Bundeskanzler Konrad Adenauer ausgehandelt hatte, war „verärgert“, musste aber die Erklärung hinnehmen, dass eine Mehrheit der deutschen Politiker weder den Ausschluss Großbritanniens und der skandinavischen Länder von der europäischen Einigung, noch eine Belastung der transatlantischen Beziehungen akzeptieren wollte. Brandt gehörte allerdings zu jenen, die der europapolitischen Philosophie de Gaulles durchaus etwas abgewinnen konnten. „Warum eigentlich nur er?“ fragte er in seiner vielbeachteten Rede vor der Foreign Policy Association 1964 und meinte damit den Anspruch de Gaulles auf eine selbständige Rolle Europas zwischen den Supermächten. Zwischen der Konzeption des Generals von einem „europäischen Europa“, einem „Europa vom Atlantik zum Ural“, und den gesamteuropäischen Vorstellungen Brandts gab es durchaus Übereinstimmungen. Vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik reklamierte Brandt, ebenfalls 1964, auch für die Bundesrepublik mehr Handlungsspielraum und forderte, durch eine aktivere und selbständigere Verfolgung nationaler Interessen die festgefahrenen Strukturen in der Deutschland-, Europa- und Ost-West-Politik aufzubrechen.


Bei allem Respekt für die Konzeption de Gaulles eines Europas der Dritten Kraft, war sich Brandt aber stets der Bedeutung des transatlantischen Verhältnisses für die Bundesrepublik bewusst. Brandt und die SPD standen dem Lager der „Atlantiker“ in den Bonner Regierungsparteien näher als dem der „Gaullisten“ um Adenauer. Nach dem Rücktritt des „Alten“ im Oktober 1963 wurde der Dialog mit der CDU in europapolitischen Fragen weiter ausgebaut. Besonders in der Frage der Erweiterung der EWG um Großbritannien, Irland und die skandinavischen Länder standen sich Sozialdemokraten und Christdemokraten nahe. In der Europapolitik gab es im Bundestag nach 1963 kaum noch parteipolitische Gegensätze.


Über Partei- und Landesgrenzen hinweg wurde das europäische Bewusstsein Brandts und anderer führender Sozialdemokraten seit Mitte der 1950er Jahre durch die Begegnung mit Jean Monnet geschärft. Der père de l’Europe hatte Brandt früh als einen der kommenden Entscheidungsträger ausgemacht und den Kontakt zu ihm gesucht. In Monnets 1955 gegründeten Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa waren Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner ebenso Mitglied wie die CDU-Politiker Kurt Georg Kiesinger und Rainer Barzel, mit denen sie zwischen 1966 und 1969 in der Großen Koalition die Europapolitik der Bundesrepublik bestimmen sollten.

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