Friedenspolitik und Deutsche Einheit (1975-1992)
Friedenspolitik und Deutsche Einheit (1975-1992)
Auch nach seinem Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers am 6. Mai 1974 widmete sich Willy Brandt weiterhin aktiv der internationalen Politik. Sein Engagement war dabei besonders auf die Anliegen der Dritten Welt gerichtet. Im Jahre 1976 wurde er zum Präsident der Sozialistischen Internationalen (SI) gewählt, deren Vize-Präsident er bereits seit 1966 war. Unter der Präsidentschaft Brandts, die bis 1992 währte, erfuhr die SI sowohl organisatorisch als auch inhaltlich eine Neuorientierung. Die Organisation gewann an Effektivität und öffnete sich befreundeten Parteien in der Dritten Welt. Mit dem Vorsitz einer „Unabhängigen Kommission für internationale Entwicklungsfragen – bekannt als „Nord-Süd-Kommission“ – übernahm Brandt 1977 auf Wunsch des Präsidenten der Weltbank, Robert McNamara, eine weitere Aufgabe. Anfang 1980 konnte er dem Generalssekretär der Vereinten Nationen den Abschlußbericht der Kommission mit dem Titel „Das Überleben sichern“ präsentieren. Der Bericht wurde als „Brandt-Bericht“ bekannt und leistete einen zentralen Beitrag zur Debatte um die Herausforderungen des Dialogs mit der Dritten Welt. Drei Jahre später folgte der Zusatzbericht „Hilfe in der Weltkrise“.
Als wichtiges Element der weltpolitischen Zusammenarbeit blieb aber auch die europäische Einigung für Willy Brandt ein zentraler Bestandteil seines politischen Wirkens. Auf dem ersten Listenplatz der SPD verhalf er 1979 dem Wahlkampf für die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments zu dringend benötigter Aufmerksamkeit. Allerdings konnte auch Brandts Einsatz nicht verhindern, dass die Sozialdemokraten insbesondere in der Bundesrepublik schlecht abschnitten. Als Abgeordneter gehörte Brandt dem Parlament für eine Wahlperiode (bis 1983) an. In all seinen Funktionen nahm Brandt aktiv an den Diskussionen um die Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaften teil. Besonders lag ihm dabei Europas Aufgabe als „Friedensfaktor“ am Herzen.
Europas Rolle als Friedensfaktor
In einer Rede vor der Versammlung der sozialistischen Parteien Europas im Juni 1978 präsentierte Brandt Europa als wichtigen Faktor für den Frieden und meinte damit den Beitrag der Europäischen Gemeinschaften zum Aufbau einer weltweiten Friedensordnung. Er erinnerte an das 1973 in Kopenhagen formulierte Ziel einer europäischen Identität und die damit verbundene Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft, sich als Akteur in den internationalen Beziehungen zu profilieren. Fortwährend behindert durch das Voranstellen nationaler Eigeninteressen seiner Mitglieder und wiederholt zurückgeworfen durch internationale Krisen konnte die Gemeinschaft nur selten ihren weltpolitischen Ansprüchen gerecht werden. Auch der Versuch der „Neun“, mit dem Tindemans-Bericht von 1976 den Gedanken der politischen Union weiterzuverfolgen, scheiterte letztendlich am Desinteresse der nationalen Regierungen, die selbst den Auftrag dazu erteilt hatten. Ungeachtet dieser Misserfolge sah Brandt durchaus internationale Aufgaben, denen sich die Gemeinschaft annehmen musste und auch konnte. Vor dem Hintergrund seines Nord-Süd-Engagements erkannte er diese Aufgaben beispielsweise im Bereich der Entwicklungshilfe. Die Gemeinschaft, so Brandt, müsse anstreben, „die selfreliance der Entwicklungsländer zu vergrößern und eine gerechtere Verteilung von Wohlstand, Wissen und Macht“ herbeizuführen. Ein wichtiges Ziel bleibe weiterhin die „Überwindung von Rassismus und Restkolonialismus“. Noch in Brandts Amtszeit hatte die EG Verhandlungen mit den ehemaligen Kolonien in Afrika, in der Karibik und im Pazifik (AKP-Staaten) aufgenommen, um deren Verbindungen mit dem Gemeinsamen Markt nach der Erweiterung von 1973 auf eine neue Grundlage zu stellen. Im Februar 1975 konnten diese Verhandlungen mit dem Lomé-Abkommen abgeschlossen werden, das Brandt als richtungweisend einschätzte.
Die Erweiterung der Gemeinschaften sah Brandt ebenfalls als zentrale Herausforderung der Gemeinschaft an. In den 80er Jahren standen die Beitrittsgesuche Griechenlands (1981), Spaniens (1986) und Portugals (1986) auf der Tagesordnung und damit auch der Abschluss des Demokratisierungsprozesses in Südeuropa. In seinen Funktionen als SPD-Vorsitzender und als Präsident der SI war Brandt ein wichtiger Ansprechpartner für die sozialdemokratischen Parteien der Beitrittskandidaten, die Mitte der 70er Jahre entscheidend zur Überwindung der autoritären Regime in ihren Ländern beigetragen hatten.
Neben der Erweiterung setzte sich Brandt weiterhin für die Aufrechterhaltung enger Verbindungen zu den Nord- und Mitteleuropäischen Ländern (Island, Finnland, Schweden, Norwegen, Schweiz und Österreich) ein, mit denen die EG 1973 Handelsabkommen abgeschlossen hatte. Brandt unterhielt enge Verbindungen zu führenden Politikern dieser Länder wie Olof Palme und Bruno Kreisky und insistierte, die Gemeinschaft dürfe sich diesen „hochentwickelten Nationen“ gegenüber nicht abschotten, sondern müsse, auf gemeinsame Traditionen und Erfahrungen aufbauend, von ihnen profitieren.
Auch die gesamteuropäische Dimension verlor Brandt nie aus dem Blick. Eine „Europäisierung Europas“ beinhaltete für ihn immer auch die Verstärkung der Verbindungen nach Mittel- und Osteuropa. Für die Europäer gelte es, die Bestimmungen der 1975 unterzeichneten Schlussakte von Helsinki „Schritt für Schritt umzusetzen“. Außerdem müsse Europa eine Antreiberrolle im Abrüstungsprozess einnehmen.
Im Zentrum des europäischen Einigungsprozesses musste nach Auffassung Brandts aber „weiterhin die Achse Paris-Bonn stehen. Über ständig wiederkehrende Differenzen durfte nie die grundsätzliche Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft für die europäische Zusammenarbeit und für die Entwicklung des Kontinents vergessen werden.
Die Wiedervereinigung Deutschlands und die geopolitischen Umbrüche nach dem Ende des Kalten Krieges
Von 1961 bis 1987 war Brandt Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Als er 1987 auf dem Parteitag in Bad Godesberg von diesem Amt zurücktrat, versprach er, „nicht von Bord zu gehen“, sondern seine Erfahrungen der deutschen und europäischen Sozialdemokratie weiterhin zur Verfügung zu stellen. Als Ehrenvorsitzender der SPD und Mitglied des Bundestags nahm Brandt bis zu seinem Tode im 1992 aktiv an den politischen und programmatischen Diskussionen seiner Partei teil und meldete sich in den wichtigen Debatten über innen- und außenpolitische Angelegenheiten zu Wort. Als Elder statesman hatte seine Stimme dabei sowohl in den politischen Kreisen des In- und Auslands als auch in der Öffentlichkeit Gewicht. Dies zeigte sich in besonderem Maße in Verbindung mit der deutschen Einheit, die Brandt auch als Ergebnis seiner eigenen ost- und deutschlandpolitischen Bemühungen betrachten konnte. Am Tag nach der Öffnung der Berliner Mauer redete er vor dem Schöneberger Rathaus, von dem aus er als Regierender Bürgermeister West-Berlins Ende der 50er Jahren die „neue Ostpolitik“ eingeleitete hatte. Tausende Menschen aus West- und Ost hörten am 10. November 1989 seine Mahnung, man sei noch nicht am Ende des Weges angekommen. Sein Ausspruch, „Nun wächst zusammen was zusammengehört“, wurde zum Leitmotiv des Einigungsprozesses.
Anders als viele seiner politischen „Enkel“, die mittlerweile die Geschicke der SPD leiteten, befürwortete Brandt die Beschleunigung des Einheitsprozess und unterstützte in dieser Frage die zupackende Vorgehensweise des Bundeskanzlers und CDU-Parteivorsitzenden Helmut Kohl. Ähnlich wie Kohl war sich Brandt auch der Notwendigkeit bewusst, die deutsche Einheit in der Perspektive der europäischen Einigung zu verfolgen. Die Verhandlungen um die deutsche Einheit mussten nicht nur in enger Zusammenarbeit und Absprache mit den ehemaligen Besatzungsmächten vollzogen werden, das geeinte Deutschland musste sich auch noch fester den europäischen Partnern gegenüber verpflichten. Dass Sozialisten wie der französische Staatspräsident Francois Mitterrand angesichts der möglich gewordenen Einheit ebenso misstrauisch reagierten wie die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher machte die Stärkung der europäischen Dimension umso dringlicher. Brandt, der nun keine politische Verantwortung mehr trug, konnte diese Vorgänge nur kommentierend und beratend begleiten. Seine Vergangenheit als Schlüsselfigur des deutschen, europäischen und internationalen Entspannungsprozesses verlieh ihm aber eine Autorität, die den Handlungen der Bundesregierung wertvolle Schützenhilfe lieferte. Zu den wichtigsten Säulen der Brandt’schen Ostpolitik in den 60er und 70er Jahren hatte das Konzept der gesamteuropäischen Friedensordnung ebenso gehört wie die Versicherung, deutsche Ostpolitik beginne im Westen. Nun wurde parallel zum deutsch-deutschen Einheitsprozess über die Errichtung einer Europäischen Union verhandelt. Im Februar 1992 unterzeichneten die Mitgliedstaaten in Maastricht den Vertrag über die Europäische Union. Zeitgleich eröffnete der Zusammenbruch des Warschauer Paktes die Perspektive einer Eingliederung der mittel- und osteuropäischen Länder in die Strukturen der europäischen Zusammenarbeit in nicht zu ferner Zukunft.