Die Einigung Europas und die Außenpolitik der Bundesrepublik (1966-1974)

Die Einigung Europas und die Außenpolitik der Bundesrepublik (1966-1974)


Als Regierender Bürgermeister von West-Berlin war Willy Brandt zu einem der profiliertesten Außenpolitiker der Bundesrepublik Deutschland gereift. Seine Erfahrung und sein Prestige in den internationalen Beziehungen konnte er als Außenminister der Grossen Koalition (1966-69) noch weiter ausbauen, bevor er 1969 als Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition zur zentralen Kraft der deutschen Außenpolitik wurde.


In der Regierungsverantwortung setzte Brandt besonders in der Ostpolitik neue Impulse. Der erfolgreichen Versöhnung mit den westlichen Nachbarn im Rahmen der europäischen und atlantischen Zusammenarbeit seit Anfang der 1950er Jahre sollte nun die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten folgen. Dazu war es notwendig, wie Brandt es formulierte, „von existierenden Realitäten auszugehen“. Dies bedeutete für die Bundesrepublik, dass sie die Existenz der DDR ebenso anerkennen musste wie den endgültigen Verlust der deutschen Ostgebiete.


Gleichzeitig war Brandt den Interessen und Leitlinien der deutschen Außen- und Westpolitik verpflichtet, wie sie sich in den Jahrzehnten seit 1945 herausgebildet hatten. In Brandts Verständnis der nationalen Interessen Deutschlands nahm der Einsatz für die wirtschaftliche und politische Einigung Europas einen gleichwertigen Platz neben der aktiven Pflege und Aufrechterhaltung des Atlantischen Bündnisses und der Entspannungspolitik gegenüber Mittel- und Osteuropa ein. Westpolitik und Ostpolitik waren Teil eines Gesamtkonzeptes mit dem Ziel einer Lösung der deutschen Frage und der Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung.


Die europäische Einigung als Element der neuen Ostpolitik


Die ersten Schritte dessen was später als „neue Ostpolitik“ bekannt wurde, entstanden bereits in Folge der Berlin-Krise von 1958 und des Mauerbaus von 1961. Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Westmächte nicht bereit waren für die Einheit Berlins einen Krieg zu riskieren, begannen der Regierende Bürgermeister von Berlin und seine Mitarbeiter – allen voran Egon Bahr – eine „Politik der kleinen Schritte“, die darauf abzielte, den Kontakt zwischen den beiden Teilen Berlins zu erleichtern. Auf die bundespolitische Ebene wurde dieser Ansatz im Juli 1963 projiziert, als Brandt und Bahr vor der Evangelischen Akademie in Tutzing von „Wandel durch Annäherung“ sprachen. Für die CDU-geführten Bundesregierungen unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard gingen diese Schritte allerdings zu weit. Bis Mitte der 60er Jahre machte der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik die Anerkennung des „Zonen-Regimes“ in Ostdeutschland und damit jeden offiziellen Kontakt mit der DDR unmöglich. Die Regierung Erhard bemühte sich zwar um eine Ausweitung der wirtschaftlichen Kontakte zu den mittel- und osteuropäischen Nachbarn. Doch erst die Große Koalition wagte eine vorsichtige Revidierung der Hallstein-Doktrin, die seit 1955 auch dritten Staaten die offizielle Anerkennung der DDR untersagte. Eingeschränkt durch innenpolitischen Widerstand und behindert durch das Misstrauen des Ostblocks blieben die entspannungspolitischen Initiativen der Großen Koalition recht zaghaft. Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968 erlitten sie einen Rückschlag. Die Breschnew-Doktrin vom November 1968, mit der die Sowjetunion die Länder des Warschauer-Paktes an ihre begrenzte Souveränität erinnerte, zeigte der Bonner Regierung, dass eine Veränderung des Ost-West-Verhältnisses nur über ein Verständnis mit Moskau und eine Lösung der deutschen Frage möglich war.


Im Planungsstab des Auswärtigen Amts war dazu unter Leitung von Egon Bahr inzwischen ein umfassendes Konzept ausgearbeitet worden, das die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP unter der Leitung von Brandt und Außenminister Walter Scheel nach 1969 operativ umsetzte. Verhandlungen mit der DDR, mit der Sowjetunion und mit den osteuropäischen Nachbarn Polen und Tschechoslowakei wurden eingeleitet und die Alliierten Knotrollmächte zu einer Regelung des Berlin-Status gedrängt. Die Bereitschaft seiner Regierung zur Versöhnung und zur Anerkennung der Nachkriegsgrenzen unterstrich Brandt durch symbolische Gesten. Der Kniefall am Denkmal für die ermordeten Juden in Warschau anlässlich der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages im Dezember 1970 sollte verdeutlichen, dass sich die Bundesrepublik ihrer historischen Verantwortung bewusst war. Dieses Signal war auch an die westlichen Partner und an die eigene Bevölkerung gerichtet, die mit gemischten Gefühlen auf die ersten Schritte der neuen Ostpolitik reagierten.


Sowohl die europäischen Partner als auch die USA begrüßten, dass sich die Bundesregierung von der starren Haltung im Zeichen der Hallstein-Doktrin verabschiedete und sich bereit zeigte, die Realitäten der Nachkriegszeit anzuerkennen. Washington und Paris hatten, aus unterschiedlichen Gründen, bereits in den Jahren zuvor entspannungspolitische Initiativen gestartet. Vor diesem Hintergrund war die strikte deutsche Wiedervereinigungspolitik unter Partnern und Alliierten zunehmend als lästiges Hindernis empfunden worden.


Dass die Bundesregierung ihr Schicksal nun selbst in die Hand nahm, wurde aber auch mit Misstrauen betrachtet. Dabei spielte nicht zuletzt die Furcht vor einer deutsch-sowjetischen Verständigung eine Rolle. Um diesem Eindruck vorzubeugen, unternahmen Brandt und seine Mitarbeiter erhebliche Anstrengungen, die Verankerung der ostpolitischen Initiativen im westlichen Bündnis hervorzuheben und die Partner und Alliierten über offizielle und inoffizielle Kanäle zu informieren. Den westeuropäischen und atlantischen Partnern sollte jegliche Angst vor einem deutschen Alleingang genommen werden. Ein zweites „Rapallo“, eine eigenmächtige Verständigung Deutschlands mit der Sowjetunion wie in der Zwischenkriegszeit, würde es auch mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung nicht geben. Insbesondere die skeptische Regierung in Paris musste davon überzeugt werden, dass die Regelung der Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn von entscheidender Bedeutung für die Zukunft Europas sein würde. Eine politische Einigung des Kontinents würde nur auf der Grundlage allseits akzeptierter Grenzen möglich sein. Nichts sei wichtiger „als die Herstellung eines gesicherten Friedens“, betonte Brandt in einer Fernsehansprache anlässlich der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags am 8. Dezember 1970. „Frieden ist nicht möglich, ohne europäische Solidarität.“


Die Verankerung im Westen war auch ein wichtiges Element im Kampf um die innenpolitische Akzeptanz der Ostpolitik. Immer wieder musste die Regierung Brandt die Vorwürfe der Opposition zurückweisen, sie vernachlässige über ihre ostpolitischen Vorstöße das Erbe Konrad Adenauers. Die europapolitischen Erfolge der Bundesregierung – die Vollendung des Gemeinsamen Marktes, die Einleitung von Beitrittsverhandlungen und die Initiativen zur politischen Einigung – wurden zwar anerkannt, aber nicht als ausreichende Absicherung akzeptiert. Zeitweise sah es so aus, als sei Brandts Popularität im Ausland größer als zu Hause in Deutschland. Dieser Eindruck verstärkte sich mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Brandt am 21. Oktober 1971. Im Ausland als verdiente Würdigung des Friedens- und Entspannungspolitikers Brandt bejubelt, wurde die Auszeichnung in der Bundesrepublik auch als Einmischung in eine politische Streitfrage kritisiert. Die parlamentarische Auseinandersetzung über die Ostverträge führte 1972 zu einem Misstrauensvotum der Opposition gegen die mit hauchdünner Mehrheit regierende sozialliberale Koalition und ihren Bundeskanzler, das diese nur knapp überlebte. Die Neuwahlen im Herbst 1972 brachten der SPD in einem auf Brandt zugeschnittenen Wahlkampf ihren bis dato größten Triumph. Die Ostverträge - der Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion, der Warschauer Vertrag mit Polen (beide Dezember 1970) sowie der Grundlagenvertrag mit der DDR (Dezember 1972), ergänzt durch das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin (1971) – wurden im Ausland mit großer Zustimmung aufgenommen und konnten im Bundestag mit den notwendigen Mehrheiten ratifiziert werden.


Die Beziehungen der Europäischen Gemeinschaften zu den Vereinigten Staaten


Bereits in seiner Exil-Schrift „Efter segern“ (Nach dem Sieg) hatte Willy Brandt 1944 festgestellt: „Dass Amerika sich aus Europa zurückzieht, geht nicht an.“ Die enge Bindung an die Vereinigten Staaten und das Ziel einer Europäischen Union, so legte er später dar, widersprachen einander nicht, sondern stellten gemeinsam „eine Grundforderung deutscher Politik“ dar. In seinem Nobel-Vortrag unterstrich er 1971, dass die USA und Europa nicht zu trennen seien: „Sie brauchen einander als selbstbewusste, gleichberechtigte Partner.“ Mit Blick auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die Verstickung der Supermacht in den Vietnam-Krieg mahnte Brandt, Europa müsse den USA besonders in schweren Zeiten zur Seite stehen.


Die Begegnung mit dem amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, den Brandt als Berliner Bürgermeister wiederholt in den USA traf und der Berlin 1963 besuchte, prägte den aufstrebenden Entspannungspolitiker besonders stark. In Kennedys Strategie für den Frieden, einem Konzept das erstmals Gesprächsbereitschaft gegenüber dem Ostblock und Sicherheit miteinander kombinierte, erkannte Brandt auch für die deutsche Entspannungspolitik einen zukunftsfähigen Ansatz. Ebenso unterstützte er Kennedys Grand Design von einer gleichberechtigten Partnerschaft und Aufgabenverteilung zwischen Europa und Amerika. Dass die Beziehung auch weiterhin unausgeglichen sein würde und dass die USA letztendlich kein Interesse daran hatten, die leitende Rolle im westlichen Bündnis mit den Europäern zu teilen, war auch Brandt bewusst. Nichtsdestoweniger erkannte er den wichtigen Symbolcharakter der Initiative Kennedys für das westliche Bündnis. Auch deshalb setzte er sich 1963 dafür ein, den von de Gaulle und Adenauer ausgehandelten deutsch-französischen Freundschaftsvertrag um ein Bekenntnis der Bundesrepublik zum atlantischen Verhältnis zu ergänzen.


Als Außenminister und Bundeskanzler bekam Brandt dann die schwierigen Seiten der engen Bindung Bonns an Washington zu spüren. Die Europäische Gemeinschaft war im Zuge ihrer Konsolidierung immer mehr auch zu einem wirtschaftlichen Konkurrenten der Vereinigten Staaten geworden. Gleichzeitig machte die „gaullistische Herausforderung“ der amerikanischen Führungsrolle die Vermittlerrolle der Bundesrepublik nicht einfacher. Dennoch war es just die Rolle als „honest broker“ zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten, die Brandt gleich zu Beginn seiner Amtszeit als Außenminister mit viel Energie annahm und ausbaute. Gemeinsam mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) bemühte er sich um die Wiederherstellung des Gleichgewichts im Verhältnis der Bundesrepublik zu den USA auf der einen und Frankreich auf der anderen Seite, das nach Ansicht vieler Beobachter in der Regierungszeit Ludwig Erhards verloren gegangen war.


Überschattet wurde das transatlantische Verhältnis in der zweiten Hälfte der 60er Jahre durch den Vietnam-Krieg, der zu stärkerem Druck der USA auf die Alliierten einerseits und zu erhöhtem Druck durch die Öffentlichkeit auf die westlichen Regierungen andererseits führte. Während sich die Regierung Johnson mit ökonomischer und materieller Unterstützung durch die Bundesregierung abfand, nahm insbesondere die linksgerichtete Jugend in Deutschland Brandt übel, sich nicht deutlich von dem amerikanischen Krieg in Fernost distanziert zu haben. Brandt machte sich in dieser Frage – wie er später selbstkritisch bemerkte –durch seine Loyalität zu den USA als unkritisch angreifbar.


Als Bundeskanzler hatte es Brandt in den USA mit dem im Januar 1969 ins Amt eingeführten Präsidenten Richard Nixon und seinem einflussreichen Nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger zu tun. Das bilaterale Verhältnis war in dieser Phase vorrangig durch die ost- und deutschlandpolitischen Initiativen der Bundesrepublik geprägt. Die ostpolitischen Vorstöße der Regierung Brandt-Scheel basierten auf der Erkenntnis, dass letztendlich die Deutschen selbst die Initiative ergreifen mussten, um eine Lösung der Deutschland-Frage herbeizuführen. Allerdings hatten bereits die zaghaften ostpolitischen Initiativen der Großen Koalition gezeigt, dass die Bundesrepublik ihre Deutschland- und Ostpolitik nur mit Rücksicht auf die Sowjetunion und mit der Unterstützung der USA führen konnte. Die Initiativen der Regierung Brandt-Scheel nach 1969 stimmten zwar grundsätzlich mit den Entspannungsbemühungen der westlichen Partner überein, die selbständige Politik Bonns weckte in Washington und Paris (weniger in London) aber auch Misstrauen und forderte den Führungsanspruch der USA im Umgang mit dem Ostblock heraus.


Belastet wurde das deutsch-amerikanische Verhältnis in der Ära Nixon-Kissinger besonders durch die seit Ende der 1960er Jahren aufziehenden Unruhen auf dem Kapitalmarkt, die im August 1971 zu einseitigen Aktionen des amerikanischen Präsidenten, darunter die Aufhebung der Goldkonvertibilität des Dollar und die Einführung einer 10%igen Importsteuer, führten. In einem Versuch, die Wogen im Verhältnis zu den USA zu glätten, setzte Brandt beim Pariser Gipfel der EG im Oktober 1972 durch, dass ein Hinweis auf zentrale Rolle der Atlantischen Gemeinschaft in die Abschlusserklärung aufgenommen wurde. Aber die Einstellung Kissingers und Nixons, derzufolge sich die USA um weltpolitische Angelegenheiten zu kümmern hatte, wohingegen die europäischen Staaten sich auf regionale Fragen konzentrieren sollten, trug nicht zur Verbesserung des transatlantischen Verhältnisses bei. Kissingers Rede vom 23. April 1973, in der er das „Year of Europe“ ausrief um unter diesem Schlagwort die Aufgabenverteilung im westlichen Bündnis zu skizzieren, empfand Brandt – wie die meisten Politiker des Kontinents – als anmaßend und falsch.


Im Herbst 1973 führte der Yom Kippur-Krieg zwischen Israel und den arabischen Ländern das transatlantische Verhältnis in eine weitere Krise. Zu Brandts letzten außenpolitischen Initiativen als Bundeskanzler gehörte der Versuch, auch diese Vertrauenskrise im atlantischen Bündnis zu überwinden. Im Vorfeld des EG-Gipfeltreffens von Kopenhagen im Dezember 1973 bemühte er sich, die Partner auf eine gemeinsame Linie im Verhältnis zu den USA einzuschwören, für das er eine “organische Verbindung“ anregte, die sich auf Wirtschaftsfragen konzentrieren sollte. Einen wichtigen Alliierten hatte Brandt in dem britischen Premierminister Edward Heath gewonnen, der seit Juni 1970 die Geschicke seines Landes leitete. Heath, unter dessen Leitung 1972 die Mitgliedschaftsverhandlungen Großbritanniens mit der EG erfolgreich abgeschlossen wurden, distanzierte sich von dem Konzept der „special relationship“ mit den USA und bemühte sich, sein Land näher an Europa heranzuführen. Brandt blieb seinerseits dem Gleichgewichtsgedanken der deutschen Außenpolitik zwischen Europa und den USA treu.


Der Kopenhagener Gipfel brachte tatsächlich eine Erklärung zustande, in der nicht nur die „europäische Identität“ beschworen wurde, sondern auch die enge Verbindung zu den Vereinigten Staaten einen hervorgehobenen Platz einnahm. Der konstruktive Dialog und die Zusammenarbeit seien „auf der Grundlage der Gleichberechtigung und im Geiste der Freundschaft“ weiterzuentwickeln. Was die NATO anging unterzeichneten die 15 Mitglieder im Juni 1974, gut einen Monat nach Brandts Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers, in Ottawa die Transatlantische Erklärung, in der die gemeinsamen Zielsetzungen betont wurden. Wie Brandt rückblickend einräumen musste, hinterließ allerdings keine der Erklärungen „starke Spuren“.


Die europäische Einigung als Beitrag zu Frieden und Entspannung – Vom Konzept der gesamteuropäischen Friedensordnung zum KSZE-Prozess


Sowohl die Westbindung der Bundesrepublik als auch die ostpolitischen Initiativen seiner Regierung waren in Brandts Verständnis lediglich Zwischenschritte auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung.


Die dahingehenden Bemühungen sah Brandt zweigeteilt: Zunächst ging es um Schritte, mit denen die Entspannung zwischen Ost und West gefördert wurde, ohne dabei die Sicherheit und Stabilität zu gefährden. Hier war das Atlantische Bündnis gefordert und an dem Harmel-Bericht, mit dem die NATO 1967 erstmals Sicherheit und Entspannung in einer Zwei-Pfeiler-Doktrin zusammenfasste, beteiligte sich die Bundesregierung aktiv. Auch das „Signal von Reykjavik“ (1968), mit dem die Allianz dem Ostblock eine beiderseitige Verminderung der Streitkräfte (Multibalanced Force Reductions, MBFR) vorschlug, unterstützte Brandt weil „eine dauerhafte europäische Friedensordnung ein ausgewogenes System der Sicherheit voraussetze“. Gleichzeitig musste, nach Ansicht Brandts, die europäische Komponente des atlantischen Bündnisses deutlicher herausgestellt und das Sicherheitskonzept durch Elemente wirtschaftlicher und technologischer Zusammenarbeit ergänzt werden. Einer Empfehlung des „Aktionskomitees für die vereinigten Staaten von Europa“ (Monnet-Komitee) folgend, konnte sich Brandt beispielsweise einen Kooperationsausschuss zwischen den Europäischen Gemeinschaften und COMECON vorstellen. Weitreichende Initiativen waren gefordert, die letztendlich die Auflösung von NATO und Warschauer Pakt bedeuten würden, um langfristig etwas Neues an ihre Stelle zu setzen.


Das Konzept der europäischen Friedensordnung nutzte Brandt auch dazu, die euroskeptischen EG-Beitrittskandidaten davon zu überzeugen, dass es sich bei dem europäischen Einigungsprozess um weit mehr drehte als um wirtschaftliche Prosperität. Ost- und Westpolitik der Bundesrepublik, so stellte er im April 1970 dem norwegischen Parlament (Storting) dar, bildeten ein Gesamtkonzept, mit dem Ziel der europäischen Einigung einerseits und der Herbeiführung einer gesamteuropäischen Friedensordnung andererseits. Die Erweiterung der Gemeinschaft um Länder mit stabilen demokratischen Erfahrungen und guten Kontakten nach Osteuropa spielten in diesem Konzept eine wichtige Rolle. Auch in seinen Vorträgen anlässlich der Verleihung des Nobelpreises am 10. Dezember 1971 und als erster deutscher Regierungschef vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York (September 1973) hob Brandt die besondere Verantwortung der Europäischen Gemeinschaften für die friedliche Entwicklung Deutschlands und die Überwindung des Ost-West-Konflikts hervor.


Sowohl kurzfristige als auch langfristig angelegte Initiativen zur Entspannung in Europa bedurften eines multilateralen Rahmens, in den beide Supermächte sowie die westeuropäischen Partner und osteuropäischen Nachbarn eingebunden sein würden. Eine Sicherheitskonferenz, wie sie 1969 von den Warschauer Pakt Staaten in ihrem „Budapester Appell“ vorgeschlagen wurde, erschien Brandt dafür ein geeigneter Ansatz zu sein. Nachdem sich Finnland bereit erklärt hatte, seine Hauptstadt als Tagungsstätte einer solchen Konferenz zur Verfügung zu stellen, begannen langwierige und schwierige Sondierungen, die schließlich im März 1973 in Helsinki zur Aufnahme von Verhandlungen führten. Gerade weil beide Supermächte in den Helsinki-Prozess eingebunden waren, stellte die geplante Konferenz eine Herausforderung für die politische Zusammenarbeit der kurz zuvor erweiterten Europäischen Gemeinschaft dar. Tatsächlich verliefen die Abstimmung der „Neun“ und insbesondere die deutsch-französische Kooperation bei der Vorbereitung der Konferenz wesentlich besser als beispielsweise auf dem Gebiet der Nahostpolitik.


Die Europäische Gemeinschaft und die Herausforderungen der währungs- und energiepolitischen Krisen


Die deutsche Außen- und Europapolitik in der Ära Brandt wurde durch die wiederholten Spannungen des internationalen Währungssystems geprägt. Im Herbst 1968 brachte der durch das weltweite Engagement der USA geschwächte Dollar erstmals die europäischen Währungen unter Druck. Die Bundesrepublik widerstand dem Drängen Frankreichs und der USA, die D-Mark aufzuwerten und stellte mit ihrer währungspolitischen Unabhängigkeit auch ihre wirtschaftliche Stärke unter Beweis. Für den damaligen Außenminister Willy Brandt war es in dieser Situation besonders wichtig, europapolitische Solidarität zu demonstrieren, weil die Machtdemonstration in den Partnerländern ungute Erinnerungen weckte. Da an der dominierende Rolle der deutschen Wirtschaft und der D-Mark aber kein Weg mehr vorbei führte, und der chronisch schwache Dollar weitere Krisen verursachte, zeigte Brandt in den folgenden Jahren ein erhöhtes Interesse für verpflichtende Regelungen zur europäischen und internationalen Währungssolidarität. Seiner Ansicht nach musste die Gemeinschaft die Initiative zur Stabilisierung des internationalen Währungssystems ergreifen und der deutsch-französischen Achse würde dabei eine Schlüsselrolle zufallen.


In einer Rede vom 15. August kündigte Präsident Nixon eine neue Richtung der amerikanischen Wirtschafts- und Währungspolitik an, die die europäischen Partner vor große Probleme stellte. Der französische Staatspräsident Georges Pompidous skizzierte auf einer Pressekonferenz am 25. September 1971 eine Reihe von Lösungswegen, denen sich Brandt umgehend anschloss. Anfang Dezember konferierten Brandt und Pompidou über ein Maßnahmenpaket zur Lösung der Währungskrise, das eine Abwertung des Dollar, eine Aufwertung der D-Mark und eine Beibehaltung des Franc-Kurses beinhaltete. In einem Gespräch Pompidous mit Nixon auf den Azoren am 13. Dezember 1971 wurde die deutsch-französischen Maßnahmen als europäischer Kompromiss angenommen und in die Konferenz der zehn größten Industriestaaten (dem sog. ”Zehnerclub”) am 18. Dezember in Washington eingebracht. Im sog. „Smithsonian Agreement“ wurden auf dieser Konferenz eine Abwertung des Dollar beschlossen und die Währungsparitäten neu festgesetzt. Die akute Phase der Weltwährungskrise war damit überwunden worden. Das strukturelle Problem, die Schwäche des Dollar, der als Leitwährung weiterhin auch für die Wechselkurse im Gemeinsamen Markt bestimmte, ließ sich indes nicht beheben.


Ein wesentlicher Grund für die Verschärfung der weltweiten Wirtschafts- und Währungskrise in den folgenden Jahren, war der Öl-Schock des Jahres 1973. In Folge des arabisch-israelischen Oktoberkrieges (Yom Kippur-Krieg) beschlossen die in der "Organisation der Arabischen Erdölexportierenden Länder" (OAPEC) vereinten Staaten ihre Ölexporte in die westlichen Staaten einzuschränken, solange diese eine israelfreundliche Politik betreiben. Am 19. Oktober verhängten die arabischen Ölförderländer einen Lieferboykott gegen die USA und gegen die Niederlande. Die europäischen Partner wurden mit dieser Krise vor eine schwere Herausforderung gestellt, die sie nur schlecht bewältigten. Während Frankreich seine engen Beziehungen zu den arabischen Staaten bekräftigte, erklärten die Bundesrepublik und andere europäische Partner ihre strikte Neutralität im Nahost-Konflikt. Den wirtschaftspolitischen Folgen der Krise konnte indes kein europäisches Land entgehen. Als Teil der Abschlusserklärung ihres Kopenhagener Gipfels formulierten die „Neun“ am 15. Dezember 1973 eine Stellungnahme, in der sie ihre Besorgnis über die Energiekrise ausdrückten und eine Reihe von Maßnahmen ankündigten. Eine einheitliche Haltung gegenüber den Konfliktparteien und den USA konnte aber nicht gefunden werden. Das ambitionierte Ziel, die Währungskooperation der Gemeinschaft schrittweise zu einer Wirtschafts- und Währungsunion auszubauen, das Brandt im Dezember 1969 vorgeschlagen hatte und auf das sich die Gemeinschaft 1970 mit der Annahme eines Etappenplans (Werner-Plan) einigte, ließ sich in diesem Klima nicht verwirklichen. Konfrontiert mit der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und den daraus resultierenden Verteilungskämpfen, wählten die meisten Regierungen – auch die Bundesregierung – nationale Verteidigungsstrategien. Obwohl eine Verbesserung der Abstimmungs- und Entscheidungsmechanismen dringlicher denn je erschien, blieben für die europäische Sache wieder einmal nur Lippenbekenntnisse übrig.

Consult in PDF format