Die Einigung Europas im politischen Denken Willy Brandts


Der Name des vierten Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, wird in erster Linie mit seiner Ostpolitik in Verbindung gebracht. Tatsächlich nahm der Einsatz für die Freiheit Berlins, für die Einheit Deutschlands und für die Entspannung im Verhältnis zu den mittel- und osteuropäischen Nachbarn den zentralen Platz in Brandts politischem Wirken ein. Allerdings sah Brandt die Einigung Europas und die Positionierung eines starken Europas als eigenständiger Akteur im Bündnis mit den Vereinigten Staaten und im Umgang mit der Sowjetunion als nicht minder bedeutsam an. Seine oft wiederholte Formel von der Ostpolitik die im Westen beginne und das von ihm und seinem engen Mitarbeiter Egon Bahr ständig weiterentwickelte Konzept einer gesamteuropäischen Friedensordnung legen davon Zeugnis ab.


Bereits vor seinem Antritt als Bundeskanzler hatte sich Brandt ausführlich mit dem Problem der europäischen Einigung und dem Platz Deutschlands in einer europäischen Nachkriegsordnung auseinandergesetzt. Als Sozialist im skandinavischen Exil (1933–1945) beschäftigte ihn der „Traum von den Vereinigten Staaten Europas“. Als Landespolitiker und Bundestagsabgeordneter (seit 1949) äußerte er sich für die Berliner SPD zu den außenpolitischen Weichenstellungen der jungen Republik. Als Regierender Bürgermeister von Berlin (1957–1966) und SPD-Parteivorsitzender (seit 1964) begann er, die deutsche Außen- und Europapolitik aktiv mitzugestalten, um sie dann als Außenminister der Großen Koalition (1966–1969) und schließlich als Bundeskanzler (1969–1974) entscheidend zu prägen. Auch nach seinem Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers (1974) blieb Brandt dem Gedanken der europäischen Einigung verpflichtet, als Präsident der Sozialistischen Internationalen (1979–1992), als Europaabgeordneter (1979–1983) und weiterhin als SPD-Parteivorsitzender (bis 1987) und Bundestagsabgeordneter (bis 1992).


Von Beginn an war Brandts Verständnis der europäischen Einigung von einer gesamteuropäischen Dimension geprägt. Schon in seinen Schriften aus der Zeit des Exils findet sich die Überzeugung, die deutsche Frage lasse sich nur in einem erweiterten Kontext lösen. Damals hatte Brandt weder die Sowjetunion noch Großbritannien als Teil eines solchen Zusammenschlusses gesehen, wohl aber die mitteleuropäischen Nachbarn Deutschlands. Zum EG-Beitritt Großbritanniens (1973) konnte er später als Außenminister und Bundeskanzler entscheidend beitragen. Die graduelle Einbeziehung Mittel- und Osteuropas in die europäische Zusammenarbeit wurde zu einem wichtigen Element seiner Ostpolitik, die 1975 mit der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in einem gesamteuropäischen Rahmen weitergeführt wurde. Noch vor seinem Tode im Oktober 1992 durfte Brandt dann erleben, dass Michael Gorbatschow die Sowjetunion als Mitglied im „Gemeinsamen Europäischen Haus“ bezeichnete und dass sich mit dem Ende des Kalten Krieges die Möglichkeit eines Beitritts der mitteleuropäischen Staaten zu den westlichen Gemeinschaften eröffnete.


Brandts Denken und Wirken in Bezug auf die europäische Einigung war, abgesehen von den „visionären“ Schriften der Exilzeit, stets weniger durch weitreichende Pläne als durch Pragmatismus gekennzeichnet. Die europäischen Institutionen, so unzulänglich sie auch sein mochten, waren als unvermeidlich zu akzeptieren, der westeuropäische Zusammenschluss als Etappe auf dem Weg zum langfristigen Ziel einer umfassenden, gesamteuropäischen Friedensordnung anzusehen. Die zentralen Konzepte der „neuen Ostpolitik“, auf den Punkt gebracht in den Schlagworten: „Politik der kleinen Schritte“ und „Wandel durch Annäherung“ prägten auch Brandts Haltung zum Integrationsprozess, an dem trotz ständiger Blockaden und Rückschläge gearbeitet werden musste. Gewiss war Brandts Verhältnis zur Europäischen Einigung, wie sein enger Mitarbeiter Egon Bahr erinnert, auch durch Ungeduld geprägt. Mit „Ernüchterung“ nahm Brandt zur Kenntnis, dass im geeinten Europa stets das langsamste Schiff die Geschwindigkeit bestimmte, dass Initiativen versandeten und in Gang geschobene Prozesse stecken blieben. Die mangelnde Akzeptanz des europäischen Projekts in der Öffentlichkeit und insbesondere in der Jugend bereitete ihm Sorgen. Über die „Technokraten in Brüssel“ konnte er, wie andere auch, verzweifeln. Für die Malaise Europas machte Brandt allerdings weniger die Brüsseler Bürokratie verantwortlich als die nationalen Regierungen und deren „verkrampfte Verteidigung überalteter Souveränitäten und Eigeninteressen“. Die Verärgerung über die „peinlich bis empörenden Unzulänglichkeiten der EG“ hat Brandt jedoch nicht davon abgehalten, „den Königsgedanken der Einigung“ fest im Blick zu halten. Als Sozialdemokrat sah er sich dabei in der Tradition des Heidelberger Parteitagsbeschlusses der SPD von 1925 stehen, in dem die Sozialdemokraten die Vereinigten Staaten Europa gefordert hatten.

Durch ideologische Verengung durfte das Einigungsprojekt nach Ansicht Brandts aber nicht gefährdet werden. Unter Verweis auf die heftigen Auseinandersetzungen um die Westbindung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik sprach sich Brandt für einen überparteilichen Konsens in der Europapolitik aus. Ohne sein Engagement für ein soziales Europa in Frage zu stellen, nahm er wiederholt Abstand davon, ein „sozialdemokratisches Europa“ zu proklamieren.


Was die konkrete Ausformung des Einigungsprojektes anging, hat sich Brandt öffentlich zu dem funktionalistischen Ansatz der schrittweisen Integration bekannt. Auf den Einfluss des père de l’Europe, Jean Monnet, hat Brandt wiederholt verwiesen. In seiner letzten europapolitischen Grundsatzrede als Bundeskanzler, die er im November 1973 als erster Regierungschef vor dem Europaparlament in Straßburg hielt, betonte er, mehr als zwanzig Jahre Integrationsprozess hätten gelehrt, dass die funktionelle Methode eher als Ziel führe als die Konstitutionelle. Wenn diese Methode als Pragmatismus bezeichnet werde, störe ihn dies nicht. Europa, so fasste Brandt später noch einmal zusammen, könne nicht „am Reißbrett der Verfassungsrechtler“ entstehen.

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