Euratom und die Militärvorhaben Frankreichs

Euratom und die Militärvorhaben Frankreichs


In Frankreich sieht der von seinem Amt als Präsident der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zurückgetretene Jean Monnet in dem Atompool die Speerspitze des neuen Aufschwungs in Europa, wohingegen die Führung der französischen Atomenergiebehörde CEA Bedenken geltend macht, weil Frankreich seinen wissenschaftlichen und technologischen Vorsprung in den Dienst anderer Länder stellen muss. Außerdem führt Pierre Guillaumat, Generalverwalter und Regierungsdelegierter bei der CEA, den Vorrang des Militärprogramms Frankreichs ins Feld. Nun ist es aber äußerst schwierig, in der Atomenergie die militärischen von den zivilen Aspekten zu trennen, was auch den Widerstand eines Teils des französischen Generalstabs gegenüber einer wie auch immer gearteten supranationalen Struktur für Atomenergie erklärt. Denn Frankreich will eine Behinderung seiner Initiativen durch Euratom nicht akzeptieren. Aber für die Aufrecherhaltung seines Forschungsvorsprungs und die Durchführung des seit Dezember 1952 laufenden Fünfjahresprogramms zur Entwicklung der Atomenergie braucht Frankreich immer größere Mengen an angereichertem Uran. Der Plan sieht schließlich eine jährliche Produktion von fünfzig Kilogramm vor, was theoretisch zum Bau von sechs bis acht Atombomben reichen würde. Trotz des Programms Atoms for Peace sind die Vereinigten Staaten nicht bereit, Uran-235 gegen französisches Plutonium zu tauschen. Und ohnehin ist das U-235, das die Amerikaner in kleinen Mengen und zu sehr hohen Preisen zu liefern bereit sind, für jegliche militärische Nutzung zu schwach angereichert. Daher ist Frankreich bestrebt, sich aus seiner Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zu lösen. Die CEA lockert allmählich ihre Haltung gegenüber dem Projekt Euratom und betrachtet es nunmehr als technische Struktur, die sie für die Finanzierung des Baus von Atomkraftwerken und einer Anlage für Isotopentrennung nutzen zu können hofft. Für die Führung der CEA und einen Großteil der politischen Klasse Frankreichs bietet Euratom auch die Möglichkeit, einen Teil des zivilen Atomprogramms von den anderen Ländern der Sechser-Gemeinschaft mitentwickeln zu lassen. So kann Frankreich neue Mittel freisetzen und sich voll und ganz seinem militärischen Nuklearprogramm widmen. Daher ist das Land auch nur dann bereit, Euratom zu unterstützen, wenn ihm die völlige Freiheit zugesichert wird, die Forschungen für sein Nukleararsenal außerhalb der Kontrolle von Euratom fortsetzen zu können.


Denn genau das ist für Frankreich die oberste Priorität. Schon im Frühjahr 1955 lehnt der französische Beirat für nationale Verteidigung den Gedanken einer europäischen Atommacht ab. Während der Verhandlungen in dem durch die Messina-Konferenz gegründeten Regierungsausschuss und später in der Regierungskonferenz für den Gemeinsamen Markt und Euratom widersetzt sich die französische Delegation jeglicher Einschränkung der nationalen Unabhängigkeit und der atomaren Freiheit ihres Landes durch den zukünftigen Vertrag. Im Übrigen beabsichtigt Paris schon bald, erste Nukleartests durchzuführen – eine Haltung, die bei der Bundesrepublik, welcher der Besitz von Atomwaffen durch die Pariser Verträge von 1954 untersagt ist, sofort heftige Entrüstung auslöst. In Bonn ist man der Ansicht, dass Frankreich mit dieser Forderung den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung zwischen Mitgliedstaaten verletzt. Die Deutschen befürchten, Frankreich könne das für sein Militärprogramm notwendige Sicherheitsgeheimnis als Vorwand nutzen, um sich den Kontrollen und dem Informationsaustausch zu widersetzen, denen sich die anderen Partner beugen müssen, dass die französische Militärforschung jedoch gleichzeitig die Arbeiten der anderen Staaten im gemeinsamen Pool indirekt für sich nutzen kann. Als der belgische Außenminister und Vorsitzende des Regierungsausschusses, Paul-Henri, Spaak den Kompromiss eines mehrjährigen Moratoriums für Atomwaffenproduktion vorschlägt, wird das von Frankreich sehr restriktiv ausgelegt. Die französischen Delegierten verweisen wiederholt darauf, dass ihre Nationalversammlung niemals einen Vertrag ratifizieren werde, durch den Frankreich auf Atomwaffen verzichten muss. Nach der diplomatischen Demütigung in der Suez-Krise im Jahre 1956 ist Frankreich mehr denn je von der dringenden Notwendigkeit überzeugt, bald eigene Nuklearwaffen entwickeln zu müssen. Für Frankreich ist eine Verpflichtung zur ausschließlich zivilen Nutzung der Kernenergie überhaupt nur dann denkbar, wenn weltweit eine vollständige atomare Abrüstung erzielt wird. Während der Debatten in der Nationalversammlung im Juli 1956 erreichen die Verfechter der militärischen Nutzung der Atomenergie durch einen juristischen Kunstgriff, dass der Euratom-Vertrag den Mitgliedstaaten die Handlungsfreiheit auf militärischem Gebiet überlassen, mit Ausnahme derer, die aufgrund des Krieges darauf verzichten müssen. Am 30. November 1956 schließen die CEA, das Verteidigungsministerium und das Finanz- und Wirtschaftsministerium eine Vereinbarung, um das französische Atomprogramm zu beschleunigen, das unter anderem den Bau atomarer Sprengsätze vorsieht. Am 5. Dezember 1956 wird durch einen Geheimerlass innerhalb der CEA ein Ausschuss für die militärische Verwendung der Atomenergie (CAMEA) eingerichtet. Zwei Wochen später wird ein Programmplan für einen strategischen Atombomber ausgearbeitet.



Im Januar 1957 zwingen die französische Entschlossenheit sowie der eigene Wille, die Verhandlungen für den Gemeinsamen Markt erfolgreich abzuschließen, Bundeskanzler Konrad Adenauer nachzugeben. Er akzeptiert die Forderung, dass Kontrollen über den Einsatz spaltbarer Materialen nicht in Anlagen durchgeführt werden, die mit der nationalen Sicherheit eines Mitgliedstaates in Zusammenhang stehen. Nach zwei Jahren zähen Ringens geht Frankreich als Sieger aus den Verhandlungen hervor: Euratom wird zu den französischen Nuklearanlagen, die für die nationale Sicherheit von Bedeutung sind, keinen Zutritt erhalten. Der am 25. März 1957 in Rom unterzeichnete Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) hat ausschließlich die zivile Atomenergie zum Gegenstand, und auf dieser Grundlage durchgeführte Kontrollen dürfen auf verteidigungsrelevante Anlagen nicht angewendet werden. Im April 1958 beschließt die französische Regierung, die erste französische Atombombe Anfang 1960 zu testen.

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