Die EGKS in Schwierigkeiten

Die EGKS in Schwierigkeiten


Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), Motor der europäischen Einigung zu Beginn der 50er Jahre, gerät gegen Ende des Jahrzehnts in ernsthafte Schwierigkeiten.


Vor allem aufgrund der veränderten politischen Rahmenbedingungen in Frankreich nach 1958 werden die supranationalen Befugnisse der EGKS in Gestalt der Hohen Behörde nicht mehr akzeptiert. Darüber hinaus verschärfen die Auswirkungen der konjunkturellen und strukturellen Krisen im Kohlesektor die Schwierigkeiten der EGKS beträchtlich. Hinzu kommen Probleme am Stahlmarkt. Unter diesen schwierigen wirtschaftlichen und politischen Umständen versucht die Hohe Behörde, sich gegenüber den neuen europäischen Gemeinschaften (EWG und Euratom) zu behaupten, die ihr Konkurrenz zu machen drohen. Zugleich schwächen der mangelnde Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern des Kollegiums und der Umbau der internen Verwaltung aufgrund des Ausscheidens mehrerer hoher Beamter der Brüsseler Kommissionen das Ansehen der Hohen Behörde. Die Krise im Steinkohlenbergbau, von der das Europa der Sechs betroffen ist, zwingt die Hohe Behörde, sich konservativer Maßnahmen zu bedienen, die sich auf ihre Beziehungen zu einigen Drittländern, vor allem den Vereinigten Staaten, auswirken.


Der europäische Kohlemarkt


Der Gedanke einer gemeinsamen Politik im Kohlesektor entstand bereits in den 40er Jahren, doch Ende der 50er Jahre stellte sich die Wirtschaftslage grundlegend verändert dar. Anstelle des Kohlenmangels im Nachkriegseuropa ist nun eine Kohleüberproduktion zu verzeichnen. Die Zunahme der Kohlelagerbestände ist vor allem auf die starke Konkurrenz von Kohle, Erdöl und Erdgas aus den USA auf dem internationalen Energiemarkt zurückzuführen.


Im Zeitraum 1950 bis 1970 geht der Kohleverbrauch in den Haushalten und in der Industrie ständig zugunsten von Erdöl zurück, dessen Nutzung sich als weitaus bequemer erweist. Das Überangebot an Erdöl und die gewaltigen, dank gesunkener transatlantischer Frachtkosten preiswerten Kohleeinfuhren aus den USA ziehen den Rückgang des Verkaufs europäischer Kohle nach sich. Daher kann selbst die im Wettbewerb am besten positionierte europäische Kohle, die Ruhrkohle, nicht mehr abgesetzt werden und verbleibt auf Halde.


Durch die Kohlemärkte geht ein Beben, dessen tragischste Folgen Zechenschließungen und Entlassungen sind. Die Bergleute sehen sich entweder zu beruflicher Neuorientierung oder zur Arbeitslosigkeit verurteilt.


Angesichts dieser strukturellen und zugleich konjunkturellen Krise muss sich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) behaupten. Die Hohe Behörde ist bemüht, gegenüber den Mitgliedstaaten, die ihre als dirigistisch empfundenen Maßnahmen ablehnen und zunehmend Maßnahmen auf nationaler Ebene ergreifen – so bei Steuern, Zöllen oder im Handel –, die ihr zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten zu nutzen.


Die manifeste Krise


Um der Kohlekrise Herr zu werden, muss die Hohe Behörde die im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vorgegebenen Maßnahmen treffen.


Ende der 50er Jahre beabsichtigt die Hohe Behörde, eine „manifeste Kohlekrise“ zu verkünden, denn dann hätte sie laut Vertrag die Möglichkeit, zur Stabilisierung der Preise Produktionsquoten und Importkontingente für Drittländer festzulegen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die einzelnen Unternehmen eine Produktionsobergrenze einhalten. Allerdings benötigt die Hohe Behörde zwingend die Zustimmung des Besonderen Ministerrates zu einer solchen gemeinschaftlichen Maßnahme. Zudem zeichnet sich ab, dass der Ministerrat seine Zustimmung verweigern wird. Daher beschränkt sich die Hohe Behörde auf eine Reihe allgemeiner Empfehlungen an die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Produktion, die Verkaufsbedingungen, den Verbrauch und die Einfuhren von Kohle.


Die Mitgliedstaaten entziehen der Hohen Behörde ihre Zustimmung


Nach langem Hin und Her verweigert der Besondere Ministerrat auf seiner Tagung am 14. Mai 1959 der Hohen Behörde das Recht auf die Ausrufung der manifesten Krise, da die Regierungen keine Einigung im Hinblick auf Lösungen für die Kohlekrise zu erzielen vermögen. Die Sechs widersetzen sich jeglichem unmittelbaren Eingriff durch die Hohe Behörde und lehnen deren Krisenbewältigungsplan ab.


- Frankreich lehnt die Tatsache ab, dass in allen Staaten die gleichen Maßnahmen angewendet werden, obwohl unterschiedliche Konjunkturbedingungen herrschen.

- Deutschland befürchtet ein Abgleiten in den wirtschaftlichen Dirigismus.

- Die Beneluxstaaten und Italien haben unterschiedliche Auffassungen bezüglich Kontingentierung der Gemeinschaftsproduktion.


So kann die Hohe Behörde keine gemeinsamen Maßnahmen zur Bewältigung der Kohlekrise durchsetzen und muss sich darauf beschränken, im Einzelfall zu handeln. Sie regelt vor allem den belgischen Markt, der wegen seiner veralteten bergbaulichen Anlagen in Wallonien stark geschwächt ist. Die Hohe Behörde setzt einen Anpassungsfonds ein, um arbeitslose Bergleute zu unterstützen, und ermächtigt die belgischen Behörden, Subventionen zur Senkung der Preise bereitzustellen. Ein Sanierungsprogramm soll dem Land helfen, die am wenigsten effizienten Förderschächte zu schließen und damit die Produktionskapazität zu senken. Außerdem reicht sie gezielt Beihilfen an die Niederlande und an Frankreich aus.


Allerdings schadet diese unpopuläre, restriktive Politik dem Ansehen und dem Einfluss der Hohen Behörde, deren Aufgabe nun nicht mehr darin besteht, die Ausweitung der Produktion zu fördern, wie im Vertrag vorgesehen, sondern im Gegenteil für die Senkung der Produktion zu sorgen. Sie beschränkt sich darauf zu achten, dass ihre Initiativen vertragskonform bleiben. Dies ist die einzige Möglichkeit, die Preise zu stabilisieren und soziale Dramen zu vermeiden. Andererseits veranlassen die ständigen Schwierigkeiten im europäischen Kohlesektor die Hohe Behörde zur Ausarbeitung einer gemeinschaftlichen Energiepolitik. B1960 an legt sie die Harmonisierung der Produktion, der Einfuhren und der Vermarktung der verschiedenen Energiequellen fest. Sie empfiehlt vor allem die Errichtung eines Energiebinnenmarktes, der die Versorgung zu möglichst günstigen Preisen fördern könnte, verfügt jedoch nicht über die Mittel und Wege, um diesen zu verwirklichen.


Die Krise des europäischen Stahlmarktes


In den 50er Jahren steigen die Produktion und die Einfuhr von Stahl unaufhörlich, sodass ein beträchtlicher Angebotsüberhang auf dem Markt der EGKS-Mitgliedstaaten entsteht. Die Lage spitzt sich weiter zu, und es kommt zu einem andauernden Verfall der Verkaufspreise aufgrund der Konkurrenz durch Billigeinfuhren aus den Ländern des Ostblocks. Die europäische Stahlindustrie ist durch höhere Selbstkosten gegenüber ihren Konkurrenten benachteiligt. Daher erwägt die Hohe Behörde, die Einfuhren von Stahl aus Drittländern zu begrenzen und die Zölle um 14 % zu erhöhen. Dieser Vorschlag löst bei den europäischen Regierungen und Wirtschaftskreisen Unruhe aus, denn sie befürchten Gegenmaßnahmen ihrer Handelspartnerländer. Im Herbst 1963 schlägt die Hohe Behörde unter dem Vorsitz des Italieners Dino Del Bo eine gemeinsame Handelspolitik vor, doch die Regierungen können sich nicht auf das Schutzniveau eines einheitlichen Zolltarifs einigen.


Die Hohe Behörde macht Gebrauch von ihren Befugnissen und nimmt zwei „Empfehlungen“ an, die hinsichtlich ihres Ziels verbindlich, hinsichtlich der Wahl der Mittel jedoch offen sind, und in denen die Regierungen aufgefordert werden, einen weniger bedeutenden Schutz von mindestens 9 %, wie er seinerzeit in Italien galt, zu praktizieren. Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten kommen dem nach. Seitens der französischen Regierung wird der Rückgriff auf die supranationale Methode bedauert. Doch angesichts des fehlenden Einvernehmens der Regierungen ist dies die einzige Möglichkeit, das Ziel zu erreichen. Letztlich wird aber damit die ohnehin schon von mehreren Regierungen angezweifelte Rolle der Hohen Behörde erneut in Frage gestellt.

Consult in PDF format