Die Herausforderungen der europäischen Integration (1966-1974)

Die Herausforderungen der europäischen Integration (1967-1974)


Die Amtszeit Willy Brandts als Bundeskanzler begann mit einem europapolitischen Paukenschlag. Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft in Den Haag am 1. und 2. Dezember 1969 forderte Brandt mit Nachdruck, die Stagnation der Gemeinschaft zu beenden. Als zentrale Herauforderungen des Integrationsprozesses identifizierte er die Vollendung, Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaften. Die Bewältigung dieser Aufgaben war, und in dieser Auffassung unterschied sich Brandt kaum von seinen Vorgängern, in erster Linie von einer Verständigung zwischen der Bundesrepublik und Frankreich abhängig. Sowohl mit General Charles de Gaulle, dessen „Politik der Dritten Kraft“ die Entwicklung der europäischen Integration in den 60er Jahren dominiert und in mancher Hinsicht gelähmt hatte, als auch mit Georges Pompidou, der nach de Gaulles Rücktritt bereit war, über neue Aufgaben Europas zu verhandeln, führte Brandt einen offenen und konstruktiven Dialog. Dass viele der 1969 angeschobenen Initiativen in den folgenden Jahren stagnierten und dass der Integrationsprozess auch Rückschläge in Kauf nehmen musste, mindert nicht den Eindruck der Ära Brandt als Phase des Aufbruchs zum „Europa der zweiten Generation“.


Der Haager Gipfel (1. – 2. Dezember 1969)


Auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaften am 1. und 2. Dezember 1969 in Den Haag positionierte sich Brandt als einer der wichtigsten Europapolitiker seiner Zeit. Die Rede des nur wenige Monate zuvor zum Bundeskanzler gewählten Brandt stellte nach Ansicht von Teilnehmern und Beobachtern die blasse Rede des französischen Staatspräsidenten in den Schatten und blieb auch in historischer Perspektive eines der wichtigsten Ereignisse des Gipfels. Brandt sagte, Europa befinde sich in einer Krise und müsse sich daher zunächst auf die „engeren Probleme“ konzentrieren und die notwendigen Entscheidungen treffen. Erst wenn die Gemeinschaft mit einer Stimme spreche, könne sie es sich leisten zu internationalen Problemen wie dem Nahostkonflikt Stellung zu nehmen. Er verwies auch auf den Anspruch der Bürger und insbesondere der Jugend Europas, konkrete Ergebnisse vorgelegt zu bekommen. Der Bundestag und die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik erwarteten, dass er nicht mit leeren Händen aus Den Haag zurückkehre.


Am dringlichsten bedurfte zweifellos die Erweiterung der Gemeinschaft einer Lösung. Pompidous Vorgänger General Charles de Gaulle hatte sich während der gesamten 60er Jahre geweigert, Verhandlungen mit Großbritannien aufzunehmen und hatte damit sowohl die Vollendung als auch die Vertiefung der Gemeinschaft blockiert. De Gaulles Rücktritt im April 1969 hatte die Möglichkeit eröffnet, die Erweiterungsfrage endlich zu lösen und in Den Haag erinnerte Brandt die Gipfelteilnehmer an die Notwendigkeit dieses Schritts. In diesem Zusammenhang sprach er auch die angebliche Sorge Frankreichs und anderer EG-Partner vor einer dominierenden Stellung der Bundesrepublik an. Wer sich vor der wirtschaftlichen Dominanz Deutschlands in der Gemeinschaft fürchte, so Brandt, müsse auch deshalb für die Erweiterung sein.


Dass Pompidou gut einen Monat nach seinem Amtsantritt, am 23. Juli 1969, offiziell die Initiative zur Einberufung einer Gipfelkonferenz ergriff, wurde von Brandt und der Bundesregierung begrüßt. Brandt selbst hatte wenige Tage zuvor in einer europapolitischen Grundsatzrede die Veranstaltung einer Regierungskonferenz gefordert und dabei auch die dort anzusprechenden Themen skizziert: die Aufnahme von Verhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten, die Beendigung der zwölfjährigen Übergangszeit zum vorgesehenen Termin am 1.1.1970, eine Einigung über die Agrarpolitik und Agrarfinanzierung nach 1970, die Stärkung des europäischen Parlaments, eigene Einnahmen der Europäischen Gemeinschaften aus Zöllen und Abschöpfungen sowie eine Einigung über regelmäßige Konsultationen zu außenpolitischen und verteidigungspolitischen Fragen. Bei der Vorbereitung des Gipfels wurde der französische Staatspräsident in die Pläne der Bundesregierung einbezogen und u.a. über den geplanten Vorschlag eines Währungsfonds informiert. Auf diese Weise konnte der französischen Regierung auch zu verstehen gegeben werden, dass eine Vollendung der Gemeinschaft – und hier war insbesondere die von Frankreich so dringend gewünschte endgütige Finanzierungsregelung der Gemeinsamen Agrarpolitik gemeint – nur in Kombination mit einer Lösung der Beitrittsfrage möglich sein würde.


Auf dem Gipfel überraschte Brandt die europäischen Partner und die Öffentlichkeit dann mit einem umfassenden Programm, das auch die Stärkung der europäischen Institutionen und die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion einschloss. Mehrere der von Brandt angesprochenen Punkte wurden in das Abschlusskommuniqué des Gipfels übernommen, das zu einer Art Regierungsprogramm der Gemeinschaft für die beiden folgenden Jahre wurde und darüber hinaus langfristige Wirkungen auf die europäische Zusammenarbeit hatte.


Kurzfristig ermöglichte der Haager Gipfel die Vollendung der Gemeinschaft zum vorgesehenen Zeitpunkt, indem sich die Regierungen noch vor Jahresende auf eine Finanzierungsregelung für die Landwirtschaft einigten. Des Weiteren wurde die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien und den weiteren Kandidaten (Dänemark, Irland, Norwegen) vereinbart, die schließlich am 30. Juni starteten. In einer längerfristigen Perspektive wurden die Initiativen zur politischen Einigung verfolgt. Eine Kommission unter der Leitung des Luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner wurde beauftragt, einen Plan für die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion auszuarbeiten. Einer Arbeitsgruppe unter der Leitung des belgischen Diplomaten Graf Davignon wurde der Auftrag erteilt, einen Bericht über die Möglichkeiten einer engeren politischen Zusammenarbeit der EG-Mitglieder zu erstellen. Obgleich die Umsetzung beider Initiativen nach einer enthusiastischen Anfangsphase durch die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedstaaten behindert und durch internationale Krisen (arabisch-israelischer Krieg, Energie-Krise 1973) zurückgeworfen wurde, können sie als erste Schritte auf dem Weg zu einer politischen Union gelten.


Die deutsch-französische Partnerschaft


Die Große Koalition unter der Leitung Kurt Georg Kiesingers (CDU) als Bundeskanzler und Willy Brandts (SPD) als Vizekanzler und Außenminister stand ganz im Zeichen des Bemühens um die „Entente élémentaire“. In der Kanzlerschaft Ludwig Erhards (1963–1966) hatte die deutsch-französische Freundschaft nach weit verbreiteter Auffassung unter dem schlechten Verhältnis des „Atlantikers“ Erhard und seines Außenministers Gerhard Schröder zu de Gaulle gelitten. In der Regierungserklärung Kiesingers vom 13. Dezember 1966, an der Brandt und die SPD wesentlichen Anteil hatten, wurde zwar eine „falsche Alternative der Wahl“ zwischen den USA und Frankreich abgelehnt. Gleichwohl nahm die deutsch-französische Zusammenarbeit einen besonders wichtigen Platz im Regierungsprogramm ein und bei ihrem ersten Besuch in Paris betonten Kanzler und Außenminister, den Elysée-Vertrag von 1963 wieder aufleben lassen zu wollen. Besonders im Bereich der technologischen Zusammenarbeit und in der Ostpolitik sollten die Beziehungen ausgebaut werden. Dieses Unterfangen wurde jedoch erschwert durch die Politik de Gaulles, der zwar die Loyalität der Bundesrepublik einforderte, gleichzeitig aber sowohl in sicherheitspolitischen Fragen als auch in den Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa häufig den Alleingang bevorzugte.


Die schwerste Belastung erfuhr das Verhältnis durch die Frage des britischen EG-Beitritts, die der britische Premierminister Harold Wilson im Mai 1967 wieder auf die Tagesordnung der Gemeinschaft gebracht hatte. Brandt profilierte sich als besonders aktiver Fürsprecher der Erweiterung um Großbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen und wusste dabei die Mehrheit des Bundestags und der öffentlichen Meinung hinter sich. Den Druck auf Paris wollte er aber ebenso wenig erhöhen wie Bundeskanzler Kiesinger. Im November 1967 legte de Gaulle zum zweiten Mal nach 1963 sein Veto gegen die EG-Mitgliedschaft Großbritanniens ein und stand damit weiterhin der Lösung eines Problems im Wege, das die Arbeit der Gemeinschaft immer deutlicher zu lähmen begann. Bei der Suche nach Übergangslösungen fand sich die Bundesregierung erneut in der unbequemen Rolle des Vermittlers wieder, gleichermaßen gefordert von den Beitrittskandidaten, die sich von Bonn mehr Unterstützung erwarteten, von den ungeduldigen EG-Partnern, die Druck auf Paris ausüben wollten und von Frankreich, auf dessen Beitrag zur Europäischen Einigung weder Brandt noch Kiesinger verzichten konnten. De Gaulles Rücktritt im April 1969 eröffnete zwar die Möglichkeit, einer Lösung der Beitrittsfrage, die Vermittlerrolle behielt Bonn indes weiterhin. In den 1970 eröffneten Beitrittsverhandlungen sah Brandt seine Rolle vorrangig darin, den Dialog zwischen de Gaulles Nachfolger Georges Pompidou und dem neuen britischen Premierminister Edward Heath fördern. Das von Brandt angeregte Gipfeltreffen zwischen diesen beiden Staatsmännern im Mai 1971 ebnete den Weg zum Erfolg der Verhandlungen.


Die Beziehung Brandts zu Pompidou war nicht gerade durch freundschaftliche Nähe, wohl aber durch eine enge Zusammenarbeit geprägt, die nicht ergebnislos bleiben sollte. Im Vorfeld des EG-Gipfeltreffens von den Haag hatte Egon Bahr seinem Chef geraten, die Beziehungen zu Frankreich zu intensivieren und von der „coopération exemplaire“ zu einer „coopération préférentielle“ überzugehen. Tatsächlich wurde Pompidou privilegiert in die Planungen der Bundesregierung einbezogen, in der Gewissheit, nur auf diesem Weg in allen drei Kernfragen des Gipfels – Vertiefung, Vollendung und Erweiterung – einen Durchbruch erzielen zu können. Auch in seiner Bilanz des Gipfels sparte Brandt nicht mit Lob für die europapolitische Weitsicht des französischen Partners. In den folgenden Jahren hielt sich Brandt bewusst im Hintergrund, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Bundesrepublik wolle eine Führungsrolle in Europa einnehmen. Zu wichtig war die Unterstützung Frankreichs, nicht zuletzt für die europäische Einbindung und Absicherung der deutschen Ostpolitik. Allerdings hielt Brandt an dem Begriff der Entente exemplaire fest, da dieser Ausdruck seiner Ansicht nach besser die Rolle des Verhältnisses als tragende Achse und Motor der Europäischen Gemeinschaft ausdrückte. Auch Pompidou konnte sich mit dieser Charakterisierung der Beziehung anfreunden.


Brandt und Pompidou konnten in ihrer Amtszeit eine Reihe von Ergebnissen und Initiativen vorweisen, darunter die Vollendung der Übergangsphase, den Vollzug der ersten EG-Erweiterung und die Initiierung weitsichtiger Projekte zur politischen Einigung Europas. Insbesondere die Projekte der politischen Einigung konnten allerdings zunächst nur in eingeschränkter Form verfolgt werden. Als 1974 Brandt durch eine Spionage-Affäre zum Rücktritt gezwungen wurde und Pompidou verstarb, hatte die Stagnation im Integrationsprozess bereits zu einiger Desillusion bezüglich der politischen Einigung geführt. Brandt sah die Verwirklichung weitreichender Ziele nun hinter die Aufgabe der Konsolidierung des Erreichten zurücktreten.


Die Vollendung der Gemeinschaft


Bevor sich Brandt als Bundeskanzler der Erweiterung und Vertiefung der Gemeinschaft widmen konnte, musste er sich als Außenminister der Großen Koalition mit dem Problem der Vollendung auseinandersetzen. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Gemeinschaft 1967 konstatierte Brandt, die EWG sei „noch weit vom Ziel entfernt.“ Zu den dringlichsten Aufgaben gehörte die 1965 beschlossene Fusion der Exekutivorgane der drei Gemeinschaften, EGKS, Euratom und EWG, mit der die Funktionsweise der europäischen Institutionen übersichtlicher gemacht werden sollte. Die Fusion konnte im Juli 1967 vollzogen werden und die Vollendung der Zollunion, der Abbau der Zollschranken innerhalb der Gemeinschaft und die Errichtung eines gemeinsamen äußeren Zollsatzes, gelangen sogar noch vor dem geplanten Zeitpunkt.


Als wesentlich schwieriger stellten sich die Verhandlungen über die Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) heraus, für die nach Ablauf der Übergangszeit am 1. Januar 1970 eine endgültige Regelung gefunden werden sollte. Frankreichs Landwirtschaft profitierte am meisten von den gemeinschaftlichen Regelungen und Paris war besonders an einer endgültigen Regelung interessiert, bevor mit der Erweiterung neue Machtverhältnisse und neue Interessen die Gemeinschaftspolitik in dieser Frage bestimmen würden. Zwischen 1965 und -66 war die GAP-Finanzierung ein Grund für die Krise des leeren Stuhls, gewesen, die schließlich im Frühjahr 1966 mit dem Luxemburger Kompromiss beigelegt werden konnte. Je näher das Ende der Übergangszeit rückte, desto mehr entwickelte sich das Finanzierungsproblem zu einem wichtigen Druckmittel der „Fünf“, gegenüber Frankreich. Erweiterung und GAP-Finanzierung wurden Teil eines Verhandlungspakets, über das in Den Haag prinzipielle Einigkeit erzielt wurde. Im Detail konnte das Paket auf einer Reihe von Marathonsitzungen des Ministerrats noch vor Jahresende festgezurrt werden.


Zu einer Herzensangelegenheit für den Sozialdemokraten Brandt wurde die soziale Dimension der Gemeinschaft. Auf dem Gipfeltreffen von Paris am 19. und 20. Oktober 1972, zu dem auch die neuen Mitglieder eingeladen waren, brachte die Bundesregierung den Vorschlag ein, die Sozialpolitik der Gemeinschaft zu stärken. Brandt erläuterte, soziale Gerechtigkeit dürfe „kein abstrakter Begriff bleiben und sozialer Fortschritt nicht als bloßes Anhängsel des wirtschaftlichen Wachstums missverstanden werden“. Mit der Stärkung der sozialen Dimension der Gemeinschaft zielte Brandt besonders auf die wachsende Skepsis in der Bevölkerung ab, der es immer schwerer falle sich mit der Gemeinschaft zu identifizieren. Die Ablehnung der EG-Mitgliedschaft durch die Bevölkerung Norwegens einen Monat vor dem Pariser Gipfel war in dieser Hinsicht ein Weckruf gewesen.


Angesichts der Krisen, mit denen sich die Gemeinschaft am Ende der Amtszeit auseinanderzusetzen hatte, kam Brandt auf das Thema der Vollendung zurück. Nunmehr sei es an der Zeit, so teilte er dem Europaparlament im Herbst 1973 mit, die großen Pläne zurückzustellen und in eine Phase der Konsolidierung einzutreten, um zu retten was in zahllosen Kompromissen aufgebaut wurde.


Die erste Erweiterung der Gemeinschaften


Die Frage der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften, die seit der Ablehnung des britischen Beitritts durch den französischen Staatspräsidenten de Gaulle im Januar 1963 die Gemeinschaft beschäftigte, begleitete Brandt fast den gesamten Zeitraum seiner Regierungszeit.


Im Herbst 1966, fast zeitgleich mit dem Antritt der Großen Koalition, leitete der britische Premierminister Harold Wilson Sondierungen in den Hauptstädten der EG ein und im Mai und Juni 1967 folgten die Anträge Londons und der übrigen Kandidaten (Dänemark, Irland und Norwegen). Die Grosse Koalition bekannt sich früh dazu, die Erweiterung zu fördern und Brandt, dessen Partei schon in den 50er Jahren nachdrücklich für eine Erweiterung der Gemeinschaft gestritten hatte, tat sich besonders hervor, in dem er sich öffentlich für die Aufnahme von Verhandlungen stark machte und die Kandidaten beriet. Gleichzeitig schloss er sich jedoch Bundeskanzler Kiesinger an, der jeden offenen Druck auf Frankreich in dieser Frage ausschloss. Paris sollte überzeugt, nicht gedrängt werden. Indirekter Druck war allerdings sehr wohl geplant. So stimmte man in der Bundesregierung nach dem zweiten Veto de Gaulles im November/Dezember 1967 darin überein, dass die von Frankreich angestrebte endgültige Finanzierungsregelung für die Gemeinsame Agrarpolitik von einer Lösung der Erweiterungsfrage abhängig gemacht werden sollte. Zunächst aber war der Weg zur Aufnahme von Verhandlungen erneut verbaut, obwohl die „Friendly Five“, die Bundesrepublik, Italien und die Benelux-Länder im Ministerrat durchsetzten, dass Thema auf der Tagesordnung der Gemeinschaft zu belassen. Auch die Kandidaten hielten an ihren Beitrittsgesuchen fest.


Als Zwischenschritt auf dem Weg zur Mitgliedschaft wurden 1968 eine Reihe alternativer Lösungen vorgeschlagen, die allesamt von dem graduellen Abbau von Handelsbarrieren und von einer Ausweitung der Zusammenarbeit mit den Kandidaten in verschiedenen Politikfeldern ausgingen. Einen Vorschlag de Gaulles aufgreifend setzten sich Brandt und die Bundesregierung für ein handelspolitisches Arrangement ein. Dieser Vorschlag scheiterte allerdings daran, dass Großbritannien einen verpflichtenden Zeitplan bis zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen forderte, wovon wiederum Frankreich nichts wissen wollte.


Die skandinavischen Beitrittskandidaten, Dänemark und Norwegen, diskutierten zur gleichen Zeit mit Schweden und Finnland den Plan einer nordischen Zollunion (Arbeitsname: Nordek). Nordek war ebenfalls als Übergangslösung konzipiert und wurde als solche von Brandt und der Bundesregierung begrüßt. Sowohl von Seiten der EG-Kommission als auch von der Bundesregierung gab es durchaus Bedenken, die Errichtung einer nordischen Zollunion, da diese eine spätere EG-Mitgliedschaft der skandinavischen Länder unmöglich mache. Brandt ließ sich aber überzeugen, dass Norwegen und Dänemark an ihren Beitrittsgesuch festhalten und den Nordek-Vertrag flexibel gestalten wollten. Finnland, für das eine EG-Mitgliedschaft aufgrund seiner engen Beziehungen zur Sowjetunion nicht in Frage kam, sah dagegen in der nordischen Lösung eine Alternative zur EG-Mitgliedschaft. Das gleiche galt für die europaskeptischen Milieus in Schweden und Norwegen. Als sich Anfang 1970, im Anschluss an den Haager Gipfel, ein Durchbruch in der Erweiterungsfrage abzeichnete, verweigerte Helsinki die Unterzeichnung des fertig verhandelten Nordek-Vertrages und brachte das Projekt damit endgültig zum Scheitern.


Nach dem Rücktritt de Gaulles im April 1969 bemühte sich Brandt aktiv um einen Dialog mit dem neuen Staatspräsidenten Georges Pompidou, von dem er in der Beitrittsfrage zu recht mehr Flexibilität erwartete. Auf dem EG-Gipfeltreffen in Den Haag am 1. und 2. Dezember konnte dann ein Durchbruch in der Beitrittsfrage erzielt und der Beginn der Verhandlungen im Sommer 1970 festgelegt werden. Bei der Vorbereitung der Verhandlungen und in den Verhandlungen selbst, die am 30. Juni 1970 in Luxemburg begannen, spielten Brandt und sein Außenminister Walter Scheel (FDP) eine wichtige, zumeist aber eine bewusst zurückhaltende Rolle. Beide waren stets darauf bedacht, den Franzosen die führende Position in den Verhandlungen zukommen zu lassen. Als im Juni 1971 der Durchbruch in den Verhandlungen mit Großbritannien erzielt werden konnte, rühmte Brandt neben dem Einsatz Pompidous und Heaths allerdings auch die Anstrengungen seiner eigenen Regierung, die maßgeblich zum Erfolg beigetragen habe.


Für die Verhandlungen mit den skandinavischen Ländern spielten Brandt und die Bundesrepublik eine wichtigere Rolle. Nicht nur war die Bundesrepublik der mit Abstand wichtigste Handelspartner dieser Länder unter den Sechs. Brandt setzte sich auch aus politischen und persönlichen Gründen für die Mitgliedschaft der sozialdemokratisch geprägten Länder Nordeuropas ein, denen er aus seiner Exilzeit eng verbunden war. Auch sein Einsatz konnte indes nicht verhindern, dass das Verhandlungsergebnis aus norwegischer Sicht nicht zufriedenstellend ausfiel. Der am 22. Januar 1972 von der Regierung unterschriebene Vertrag wurde am 25. September 1972 von einer Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum abgelehnt. Die dänische Bevölkerung stimmte kurz darauf der EG-Mitgliedschaft zu, so dass die Gemeinschaft ihren Weg künftig zu neunt gehen konnte. Mit den übrigen EFTA-Ländern, die nicht die Mitgliedschaft beantragt hatten, wurden bis Ende 1972 bilaterale Freihandelsabkommen ausgehandelt.


Die politische Zusammenarbeit und die Vertiefung der Gemeinschaften


Spätestens im Anschluss an die Krise des leeren Stuhls 1965/66 hatten die Anhänger der funktionalistischen Idee einsehen müssen, dass kein automatischer Übergang von der wirtschaftlich-technischen zur politischen Einigung Europas möglich sein würde. Getreu seiner pragmatischen Auffassung des Integrationsprozesses, widmete sich Brandt als Außenminister zunächst den unmittelbar anstehenden und durchführbaren Aufgaben: der Vollendung des Gemeinsamen Marktes und der Fusionierung der Gemeinschaften. Die Aufbruchstimmung im Anschluss an den Rücktritt de Gaulles schien aber auch weiterführende Schritte zur Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit möglich zu machen.


Auf dem Gipfel von de Haag sprach Brandt dann die seit Jahren stagnierenden Bemühungen um eine Koordinierung der außenpolitischen Zusammenarbeit an. In der Perspektive der Erweiterten Gemeinschaft sah er auf diesem Feld die Gelegenheit für ein gemeinsames Bekenntnis zur „Finalité politique“. Durch die negativen Erfahrungen der Ära de Gaulle vorsichtig geworden, setzte Brandt dieses Ziel allerdings bewusst niedrig. Zwar schlug er eine „schrittweise Entwicklung der politischen Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten“ vor, schränkte aber ein, „die Bereiche des wirtschaftlichen Zusammenschlusses und der politischen Zusammenarbeit“ müssten nicht notwendig „völlig deckungsgleich sein“. Die Initiative wurde in die Empfehlungen des Gipfels aufgenommen und schon im Juni 1970 konnte eine Arbeitsgruppe unter Leitung des belgischen Diplomaten Graf Davignon einen Bericht über die politische Zusammenarbeit der Gemeinschaften vorlegen, den der Ministerrat am 27. Oktober 1970 verabschiedete. Der Davignon-Bericht über die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) sah regelmäßige Konsultationen der EG-Außenminister sowie häufigere Absprachen auf der Arbeitsebene vor. Eine Eingliederung der politischen Zusammenarbeit in die Gemeinschaftsinstitutionen war dagegen nicht geplant.


Im Juli 1973 verabschiedeten die Außenminister der erweiterten EG in Kopenhagen den Nachfolgebereicht des Davignon-Berichts, der die Konsultationen auf verschiedene Bereiche der Zusammenarbeit ausweiten sollte. Auf dem Gipfel der Neun in der dänischen Hauptstadt im Dezember 1973 wurde die außenpolitische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten als Element in die Erklärung über die Europäische Identität aufgenommen. In den Wochen zuvor hatte allerdings die Nahostkrise gezeigt, dass die Gemeinschaft noch weit von einer effektiven Koordinierung ihrer außenpolitischen Standpunkte in zentralen Fragen entfernt war. Lediglich bei der Vorbereitung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) – und damit just in dem Bereich, für den Brandt bereits auf dem Haager Gipfel von 1969 eine Abstimmung angeregt hatte – gelang es den Neun, ihre Positionen gemeinsam einzubringen.


Zur Unterstützung der außenpolitischen Kooperation war schon früh die Einrichtung eines eigenen Sekretariats diskutiert worden. Pompidou konnte sich ein „leichtes“ Sekretariat mit Sitz in Paris vorstellen. Weil sich die übrigen Mitgliedsländer auf Brüssel festgelegt hatten, wurde diese Frage aber nicht weiter verfolgt.


Zu den Diskussionen um die Vertiefung der politischen Zusammenarbeit gehörte auch die Frage, wo in den nationalen Regierungen die Verantwortung für die Europapolitik liegen sollte. Unterstützt von der Parlamentarischen Staatssekretärin Katharina Focke, die im Bundeskanzleramt für europapolitische Fragen zuständig war, widmete sich Brandt der Frage, inwiefern die Arbeit der Gemeinschaftsinstitutionen durch die Einsetzung von Europaministern oder Europastaatssekretären gestärkt werden könnte. Der Vorschlag stammte von Pompidou, der sich allerdings im weiteren Verlauf der Diskussion aufgrund regierungsinterner Abgrenzungsprobleme zurückhaltender äußerte. Auch der britische Premierminister Heath war skeptisch gegen die Einsetzung eines Europaministers, weil möglichst viele seiner Regierungsmitglieder Erfahrungen in Brüssel sammeln sollten. Brandt selbst musste ebenfalls einsehen, dass ein Europaminister gegenüber den Fachministerien zuwenig Gewicht zufallen würde. Die Bundesregierung „löste“ das Problem nach der Bundestagswahl 1972, in dem der Parlamentarische Staatssekretär im Auswärtigen Amt zum Staatsminister aufgewertet wurde und gewisse koordinierende Funktionen übernahm, darunter die Leitung des wichtigen Ausschusses der Europa-Staatssekretäre. Hans Apel (SPD) hatte als Erster diese Funktion inne, die sich aber nicht langfristig als zentrale Instanz für die Koordinierung der deutschen Europapolitik durchsetzen konnte. Eine einheitliche Regelung zwischen den Mitgliedsstaaten erfolgte nicht.


Die Bürokratisierung des Integrationsprozesses beschäftigte Brandt seit seiner Zeit als Außenminister. Die Unklarheit über Kompetenzen und Verantwortlichkeiten erkannte er als wichtigste Ursache für die wachsende Europamüdigkeit unter den Bürgern der Mitgliedstaaten. In Den Haag regte Brandt daher an, „die Arbeitsweise des [Minister]rats zu straffen und „die exekutiven Aufgaben der Kommission sachbezogen auszubauen“. Darüber hinaus hielt Brandt es für sinnvoll, die Staats- und Regierungschefs besser in die Erörterung richtungweisender politischer Entscheidungen einzubinden. Ermutigt durch den Erfolg des Haager Gipfels dachte Brandt, im Dialog mit Jean Monnet und mit dem britischen Premierminister Edward Heath, über die Einrichtung regelmäßiger Zusammenkünfte der Staats- und Regierungschefs nach, die er „Präsidentschaftstreffen“ nannte. Auch die von Pompidou lancierte Idee einer „Europäischen Regierung“ griff Brandt auf. Er musste allerdings zur Kenntnis nehmen, dass der französische Staatspräsident derartige Entwicklungsschritte im Integrationsprozess nur in einer sehr langfristigen Perspektive sah. Das gleiche galt im Übrigen für die Stärkung des Europäischen Parlaments. Brandt hatte sich bereits in Den Haag dafür eingesetzt, „die Struktur der Gemeinschaft mit den Grundsätzen der parlamentarischen Kontrolle in Einklang“ zu bringen. Dazu bedurfte es einer Ausweitung der Befugnisse des Parlaments und mittelfristig auch einer Direktwahl der europäischen Abgeordneten. Pompidou zeigte dagegen wenig Interesse, dem Parlament ein wirkliches Mitspracherecht, geschweige denn echte Kompetenzen bei der Haushaltskontrolle zuzugestehen und lehnte auch die Direktwahl ab.


In den letzten Monaten seiner Regierungszeit erkannte Brandt die begrenzten Möglichkeiten der Gemeinschaft, in den wichtigen politischen und institutionellen Fragen Fortschritte zu erzielen. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, weiter Perspektiven für das Ziel der politischen Einigung aufzuzeigen. Vor dem Europäischen Parlament erneuerte er im Oktober 1973 die Forderung nach einer Europäischen Regierung, die in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament ein Programm für die kommenden Aufgaben der Gemeinschaft ausarbeiten müsse. Die Anschlusserklärungen der Gemeinschaft auf den Gipfelkonferenzen von Paris (Oktober 1972) und Kopenhagen (Dezember 1973) schienen Brandts Optimismus zu bestätigen. Auf dem Pariser Gipfel einigte sich die Gemeinschaft auf das Ziel, noch vor Ende des Jahrzehnts eine Europäische Union zu schaffen. Auf dem Kopenhagener Gipfel wurde dieses Ziel bekräftigt und die „europäische Identität“ als Grundlage des internationalen Engagements der Gemeinschaft. Vor dem Hintergrund der aufziehenden Wirtschaftskrise fehlte der Gemeinschaft Mitte der 1970er Jahre allerdings die Kraft, die hehren Ziele durch konkrete Maßnahmen weiterzuverfolgen.


Die Wirtschafts- und Währungsunion und die währungspolitische Zusammenarbeit in Europa


Das Vorhaben, die Koordination der Währungspolitik mit gemeinsamen wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu kombinieren, wurde zum wichtigsten europapolitischen Projekt der Regierung Brandt. Inspiriert von Jean Monnet hatte Brandt dazu auf dem Gipfeltreffen in Den Haag Vorschläge gemacht, die auch in das Abschlusskommuniqué aufgenommen wurden. Im März 1970 wurde ein Ad hoc-Ausschuss unter der Leitung des luxemburgischen Ministerpräsidenten Pierre Werner beauftragt, verschiedene weitergehende Vorschläge zu analysieren, darunter den deutschen Plan zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Im Oktober 1970 legte der Ausschuss den sog. Werner-Plan vor, der die schrittweise Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb von zehn Jahren vorsah.


Brandt, der den politischen Wert der wirtschafts- und währungspolitischer Solidarität betonte, nannte den Werner-Plan am 6. November 1970 vor dem Bundestag eine „neue Magna Charta für Europa“. Dieser Enthusiasmus wurde jedoch weder in der eigenen Regierung noch in Paris geteilt. Der französische Staatspräsident befürwortete zwar gemeinschaftliche Initiativen zur Stabilisierung des internationalen Währungssystems lehnte aber eine Überführung währungspolitischer Kompetenzen auf die Gemeinschaftsorgane ab. Im März 1971 beschloss der Ministerrat die etappenweise Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion. Kurz darauf musste das Projekt jedoch de facto suspendiert werden, als die Schwäche des Dollars eine Währungskrise verursachte. Am 9. Mai 1971 entschied sich die Bundesregierung dazu, die D-Mark aufzuwerten, nachdem sich ein gemeinsames Floating der europäischen Währungen gegenüber dem Dollar als nicht durchführbar erwiesen hatte. Im Gespräch mit Pompidou rechtfertigte Brandt die Entscheidung seiner Regierung, versicherte aber, Deutschland werde weiterhin an den Zielen des Werner-Plans festhalten. Als der amerikanische Präsident im August 1971 durch einseitige Schritte (Aufhebung der Goldkonvertibilität des Dollar, 10%ige Importabgabe) eine weitere Währungskrise verursachte, bemühten sich Brandt und Pompidou gemeinsam um eine europäische Lösung. Der deutsch-französische Maßnahmenkatalog, der eine Abwertung des Dollar eine Aufwertung der D-Mark bei Beibehaltung des Franc-Kurses vorsah, wurde im Dezember 1971 vom Zehner-Club der zehn größten Industriestaaten (Belgien, Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Schweden und USA) als europäischer Kompromissvorschlag angenommen und im sog. „Smithsonian-Agreement“ festgelegt. In einem Versuch, den Werner-Plan zu reaktivieren einigten sich die EG-Mitglieder im März 1972 auf die Einrichtung der sog. „Währungsschlange“, in der die Wechselkurse nur im Rahmen festgelegter Paritäten schwanken durften. In der Abschlusserklärung des Pariser Gipfeltreffens der Gemeinschaft im Oktober 1972 wurde das Ziel bekräftigt, „die Gemeinschaft durch Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion zu stärken, die Unterpfand für Stabilität und Wachstum, Grundlage ihrer Solidarität sowie unerläßliche Voraussetzung für sozialen Fortschritt ist.“ In der Dollar-Krise des Frühjahrs 1973 blieben die europäischen Währungen innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite in einer festen Parität miteinander verbunden.


Allerdings sahen sich längst nicht alle EG-Mitgliedstaaten dazu in der Lage, an der währungspolitischen Zusammenarbeit teilzunehmen. Großbritannien, Irland und Italien blieben der Währungsschlange fern. Dänemark zog 1972 für einige Monate die Krone aus der Währungsschlange zurück und im Januar 1974 musste sogar Frankreich für einige Monate aus der Kooperation ausscheiden. Auch die Bundesregierung sah sich genötigt, auf die wiederholten Spekulationswellen mit unilateralen Maßnahmen zu reagieren. Die interne Uneinigkeit über die Währungspolitik führte im Juni 1972 zum Rücktritt von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller, der durch Helmut Schmidt ersetzt wurde. An eine Weiterführung des Etappenplans zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion war in diesem Klima nicht mehr zu denken. Zwar einigten sich die Neun 1973 auf die Einrichtung eines Währungsfonds, wie ihn der Werner-Plan vorgesehen hatte, die Absicht, den Fonds in eine Europäische Zentralbank zu überführen, ließ sich jedoch nicht verwirklichen. Von einer Koordination der Wirtschaftspolitik war nun keine Rede mehr. Konfrontiert mit der Wirtschaftskrise in Folge des Ölschocks gaben die meisten Regierungen – auch die Bundesregierung – nationalen Verteidigungsstrategien den Vorzug.


Ungeachtet dieser Rückschläge konnte sich die Regierung Brandt-Scheel zugute halten, das Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion unwiderruflich auf die Tagesordnung der Gemeinschaft gesetzt zu haben.

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