Der Schlussbericht


Nach der Billigung auf der Tagung der Finanzminister in Venedig steht der Zwischenbericht im Mittelpunkt der Gespräche, die laut Tagesordnung am 8. und 9. Juni vom Ministerrat, der sich für eine Fortsetzung der Tätigkeit der Werner-Gruppe ausspricht, in Luxemburg geführt werden.1 In diesem Rahmen äußert sich Pierre Werner in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Expertengruppe zu den Überlegungen zum Stufenplan, stellt den Inhalt des Zwischenberichts vor und verweist auf die Notwendigkeit der weiteren Vertiefung der Arbeiten. In der schriftlichen Aufzeichnung für seine Rede2 führt er die bereits in Venedig dargelegten Denkansätze weiter aus und vertritt die Auffassung, dass die thematische Vertiefung der Arbeiten anhand von sechs Schwerpunkten erfolgen müsse.


Dabei geht es um institutionelle Aspekte und um die Definition und Einrichtung wirksamer Instrumente zur Koordinierung im Bereich der Konjunkturpolitik (mit Sanktionen bewehrte Verpflichtungen) sowie mittelfristig auch um die Wirtschaftspolitik. Als notwendig erweise es sich, begrenzte und genaue Vorschläge zur Haushaltspolitik zu unterbreiten und sich eingehender mit der Finanzierung von Defiziten und mit den Auswirkungen auf die allgemeine Liquiditätspolitik im Wirtschaftssystem zu befassen. Ein weiterer Schwerpunkt betrifft die allgemeine Harmonisierung der geld- und kreditpolitischen Instrumente. Mit Blick auf die Wechselkurse sieht er ausdrücklich die „Konsultation der Zentralbankpräsidenten“ vor. Außerdem empfiehlt er „die Untersuchung aller bestehenden Fonds“ (hierzu sind der Name Triffin und seine Definition vermerkt). Alle genannten Vorschläge finden sich im Beschluss des Rates über die Vertiefung der Arbeiten der Werner-Gruppe wieder. Das Einholen von Stellungnahmen des Ausschusses der Präsidenten der Zentralbanken zu spezifischen Währungsproblemen ist darin ebenfalls niedergelegt.


Pierre Werner hat damit einen wichtigen inhaltlichen Beitrag zur Fortsetzung der Arbeiten geleistet. Dank seiner Autorität als Vorsitzender der Gruppe und seines Verhandlungsgeschicks haben die Entscheidungsgremien (Finanzminister, Ministerrat) seine Vorschläge übernommen und in offizielle Entscheidungen einfließen lassen3.


Angesichts dieser neuen politischen Entscheidung, mit der das ihr im Anschluss an den Haager Gipfel übertragene Mandat gestärkt wird, befasst sich die Werner Gruppe im Rahmen von sechs Sitzungen zwischen dem 24. Juni und dem 8. Oktober 1970 mit der Vertiefung ihrer Arbeiten.


Auf Grundlage des Zwischenberichts sowie der genannten thematischen Schwerpunkte arbeiten die Experten an der Fertigstellung des Schlussberichts, der sie im Zeitraum vom 24. Juni bis zum 8. Oktober 1970 sechs Sitzungen widmen. Die angeregten Diskussionen sind bisweilen von lebhaften Auseinandersetzungen geprägt. Letztendlich siegt jedoch das Spiel der Interessen, das in dem Wunsch nach Einigung auf einen gemeinsamen Standpunkt zum Ausdruck kommt, über doktrinären und politischen Stolz. Allerdings war dieser Moment nur von kurzer Dauer, weil aus Frankreich bereits die erste scharfe Kritik am Bericht laut wurde.


So wird nach sieben arbeitsreichen Monaten, geprägt durch Debatten, Kontroversen, geheime Verhandlungen und Kehrtwendungen, der Abschlussbericht gebilligt und Pierre Werner stellt in seiner Eigenschaft als Ausschussvorsitzender den Plan zur stufenweisen Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft offiziell vor.



Erläuterungen zum Endpunkt der WWU und zu institutionellen Aspekten


Im Schlussbericht werden die Gliederung und die Schwerpunkte des Zwischenberichts zwar beibehalten (Ausgangspunkt und Endpunkt des Stufenplans), doch erfährt er durch Klarstellungen, Lösungsvorschläge und neue praktische Maßnahmen eine Erweiterung und Vertiefung. Die Definition des Ausgangspunktes – und damit auch der Inhalt der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion – sowie der Übergangszeit bis zum Endpunkt fallen ausführlicher aus. Der Ausschuss der Zentralbankpräsidenten hat – auf Anregung von Pierre Werner und auf Grundlage der mit Baron Ansiaux entwickelten Strategie4   mit Blick auf die Einführung einer gemeinsamen Währung und einer internationalen Währungssolidarität sowie zur Unterstützung der im Verlauf der ersten Stufe vorgesehenen Maßnahmen eine technische Stellungnahme zu spezifischen währungspolitischen Problemen vorgelegt. Diese Stellungnahme findet sich als separates Dokument im Anhang zum Schlussbericht.


Während die Beurteilung des Ausgangspunktes kaum Unterschiede zum Zwischenbericht aufweist, wird der Endpunkt – die Wirtschafts- und Währungsunion – anhand von sieben Merkmalen zusammengefasst.


Zunächst ist vorgesehen, eine vollständige und irreversible Konvertibilität ohne Kursschwankungen und zu unveränderlichen Paritätsverhältnissen zu sichern oder, was als vorteilhaft gesehen wird, die verschiedenen Währungen durch eine einzige Gemeinschaftswährung zu ersetzen. Die Liquiditätsschöpfung im gesamten Währungsraum und die Geld- und Kreditpolitik müssten zentral gesteuert werden, und die Währungspolitik gegenüber der Außenwelt sei Sache der Gemeinschaft. Dasselbe gelte für die Eckwerte der öffentlichen Gesamthaushalte, insbesondere die Änderung ihres Volumens, die Größe der Salden sowie die Art ihrer Finanzierung oder Verwendung. Zudem müsse die Kapitalmarktpolitik der Mitgliedstaaten vereinheitlicht werden. Die Regional- und Strukturpolitik könne nicht mehr ausschließlich Aufgabe der Mitgliedsländer sein. Schließlich müsse auf Gemeinschaftsebene eine systematische und regelmäßige Konsultation der Sozialpartner sichergestellt werden.


Die Wirtschafts- und Währungsunion erfordere an institutionellen Reformen die Schaffung oder Umgestaltung einer Reihe von Gemeinschaftsorganen, denen Befugnisse übertragen werden müssten, die bisher bei den nationalen Instanzen lagen. Die Verwirklichung dieser Zielsetzung setze eine progressive Entwicklung der politischen Zusammenarbeit voraus, sodass die Wirtschafts- und Währungsunion als ein Ferment für die Entwicklung der politischen Union erscheint, ohne die sie auf Dauer nicht bestehen könne.5


Die Werner-Gruppe legt keine detaillierten Vorschläge für die institutionelle Ausgestaltung vor, verweist allerdings auf die dringend erforderliche Einrichtung von zwei für die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union unerlässlich erscheinenden Organen - ein wirtschaftspolitisches Entscheidungsgremium und ein gemeinschaftliches Zentralbanksystem.


Das wirtschaftspolitische Entscheidungsgremium werde im gemeinschaftlichen Interesse und unabhängig die Gesamtwirtschaftspolitik der Gemeinschaft entscheidend mitbestimmen. Da der Gemeinschaftshaushalt als konjunkturpolitisches Instrument nicht ausreichen werde, müsse das Gremium in der Lage sein, die Haushalte zu beeinflussen.6 Ferner würden Änderungen der Parität der gemeinsamen Währung oder der Paritäten sämtlicher nationalen Währungen in die Zuständigkeit des Entscheidungsgremiums fallen. Um den notwendigen Zusammenhang zur Gesamtwirtschaftspolitik zu gewährleisten, werde es schließlich auch für die anderen vergemeinschafteten Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik verantwortlich sein müssen.


Nach den Vorstellungen der Werner-Gruppe wird mit dem Übergang von Befugnissen, die bisher von nationalen Instanzen ausgeübt wurden, auf die Gemeinschaftsebene auch eine entsprechende parlamentarische Verantwortung von der nationalen Ebene auf die Gemeinschaftsebene übertragen werden müssen. Das wirtschaftspolitische Entscheidungsgremium müsse einem europäischen Parlament gegenüber politisch verantwortlich sein. Dieses Parlament werde nicht nur hinsichtlich des Umfangs seiner Befugnisse, sondern auch hinsichtlich des Wahlmodus seiner Mitglieder einen der Erweiterung der Gemeinschaftsaufgaben entsprechenden Status erhalten müssen.


Das zweite als unerlässlich gewertete Gemeinschaftsorgan ist ein gemeinschaftliches Zentralbanksystem. Für seinen Aufbau könnten Einrichtungen der Art des „Federal Reserve System“, wie es in den USA funktioniert, als Vorbild dienen. Diese Gemeinschaftseinrichtung müsse befugt sein, entsprechend den Erfordernissen der Wirtschaftslage interne währungspolitische Entscheidungen zu treffen. Ihre Zuständigkeit erstrecke sich auf die Liquidität, die Zinssätze sowie die Kreditgewährung an den öffentlichen und den privaten Sektor. Im Bereich der externen Währungspolitik werde sie für die Interventionen auf den Devisenmärkten und für die Verwaltung der Währungsreserven der Gemeinschaft zuständig sein müssen.


Mit Blick auf die Verschiebung von Entscheidungsbefugnissen von der nationalen Ebene auf die Gemeinschaftsebene verweist die Werner-Gruppe auf eine Reihe von politischen Problemen im Zusammenhang mit dem Verhältnis des wirtschaftspolitischen Entscheidungsgremiums zum gemeinschaftlichen Zentralbanksystem sowie dem Verhältnis der Gemeinschaftsorgane zu nationalen Instanzen. „Unter Wahrung der jeweiligen Eigenverantwortlichkeit muss gewährleistet werden, dass das wirtschaftspolitische und das währungspolitische Gemeinschaftsorgan die gleichen Ziele verfolgen.“7



Die erste Stufe zur Verwirklichung einer WWU: Schlüsselelemente


Die erste Stufe soll am 1. Januar 1971 für die Dauer von drei Jahren einsetzen.


Eine der wesentlichen Aufgaben sei eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Dabei gehe es vor allem um den Aufbau eines rasch funktionierenden Informationssystems zwischen den Mitgliedstaaten zur gemeinsamen Festlegung der grundlegenden wirtschafts- und währungspolitischen Ziele. Laut Werner-Gruppe bedeutet die Koordinierung der Wirtschaftspolitik notwendigerweise eine Bindung, die aber nur allmählich umgesetzt und entwickelt werden kann. Einrichtungen und Aktionen müssten dem angestrebten Endziel der Wirtschafts- und Währungsunion Rechnung tragen. In der ersten Stufe müssten die erforderlichen Mechanismen und Organe auf der Grundlage der gegenwärtigen Vertragsvorschriften geschaffen werden und funktionieren. Die Entscheidungen müssten sich aber in den Entwicklungsprozess einfügen, der zu der für das Ende des Stufenplans vorgesehenen Struktur führt.


Mit Blick auf die Verfahren müsse sich die Koordinierung der Wirtschaftspolitik mindestens auf drei Untersuchungen pro Jahr konzentrieren, bei denen die Wirtschaftslage in der Gemeinschaft eingehend geprüft wird8, so dass gemeinsam politische Orientierungen festgelegt werden können. Die Konsultationen sollten sich auf die mittelfristige Wirtschaftspolitik, die Konjunkturpolitik, die Haushaltspolitik und die Währungspolitik erstrecken und sollen zu nationalen Entscheidungen führen, die im Einklang stehen mit den gemeinsam erarbeiteten Vorstellungen. Die Konsultationsverfahren müssten durch den Verzicht auf jegliche Einschränkung der Pflicht, die Partner vorher zu konsultieren, weiter ausgebaut werden.


In der ersten Stufe werden der Rat, die Kommission sowie der Ausschuss der Zentralbankpräsidenten die zentralen Organe für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik sein. Der Ministerrat werde das zentrale Entscheidungsorgan für die allgemeine Wirtschaftspolitik sein müssen. Die Kommission werde eine große Verantwortung übernehmen müssen; zu ihren Aufgaben werde es insbesondere gehören, im Rahmen der ihr von den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten dem Rat alle zweckdienlichen Vorschläge zu unterbreiten, damit er über die betreffenden Fragen beschließen kann. Die Kommission sollte mit den zuständigen Stellen der Mitgliedstaaten die nötigen Kontakte aufnehmen. Dem Ausschuss der Zentralbankpräsidenten werde eine immer wichtigere Rolle in Fragen der internen und externen Währungspolitik zufallen. Der Tagungsrhythmus und die Zuständigkeit des Ausschusses müssten angepasst werden, damit dieser die währungspolitischen Fragen der oben vorgesehenen Ratstagungen vorbereiten, die laufenden Konsultationen durchführen und insbesondere die allgemeine Ausrichtung der Geld- und Kreditpolitik in der Gemeinschaft definieren kann.


Für eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik sollte es zumindest einmal im Jahr zu einem formalen Akt kommen. Damit ist der „Jahresbericht zur Wirtschaftslage der Gemeinschaft“ gemeint, der dem Europäischen Parlament und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgelegt wird, die ihn den nationalen Parlamenten zur Kenntnis bringen, damit diese ihm bei den Haushaltsberatungen Rechnung tragen können. Ein ähnliches Verfahren sei auch bei den auf Gemeinschaftsebene festgelegten mittelfristigen quantitativen Zielen anzuwenden.


Die Konzertierung mit den Sozialpartnern und ihre Beteiligung an der Vorbereitung der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik wird als eines der wichtigen Elemente für den Erfolg der Wirtschafts- und Währungsunion betrachtet.9 Schon in der ersten Stufe müssten Verfahren für eine regelmäßige Konzertierung zwischen Kommission und Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene geschaffen werden.


Aus Sicht der Werner-Gruppe ist ganz besonderer Nachdruck auf die bedeutenden Anstrengungen zu legen, die zur Koordinierung und Harmonisierung der Haushaltspolitik unternommen werden müssen. Nach Maßgabe der Wirtschaftslage jedes Landes seien quantitative Orientierungsdaten für die Eckwerte der öffentlichen Gesamthaushalte anzugeben, insbesondere für die Gesamteinnahmen und -ausgaben, die Verteilung der Ausgaben auf Investitionen und Verbrauch sowie die Entwicklung und Größe des Haushaltssaldos. Besondere Aufmerksamkeit sei schließlich der Art der Finanzierung der Defizite oder der Verwendung der Überschüsse zu widmen. Schon in der ersten Stufe sollten Anstrengungen zur Entwicklung gleichartiger Instrumente in den einzelnen Ländern unternommen werden.10


Im Bereich der Steuerpolitik stehen indirekte Steuern im Vordergrund. Das Mehrwertsteuersystem müsste überall eingeführt und ein Programm für die Angleichung der Steuersätze aufgestellt werden. Im Bereich der direkten Steuern müssten die Steuern, die direkten Einfluss auf den Kapitalverkehr in der Gemeinschaft haben können, harmonisiert werden.11


Angesichts der Tatsache, dass die Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb des gemeinsamen Marktes hinter den im Vertrag aufgestellten Zielen zurückgeblieben ist, erachtet die Werner-Gruppe es als notwendig, so bald wie möglich in zwei Richtungen aktiv zu werden: in Richtung auf die Ausräumung der Hindernisse für den Kapitalverkehr, insbesondere die Beseitigung der noch bestehenden Devisenbeschränkungen, und in Richtung auf eine Koordinierung der Kapitalmarktpolitik. Die Börsenzulassung für Wertpapiere aus anderen Mitgliedstaaten müsste von allen Diskriminierungen befreit werden. Bei der Koordinierung der Kapitalmarktpolitik ist zwischen prozesspolitischen12 und strukturpolitischen13 Fragen zu unterscheiden.


Die allgemeinen Orientierungen für die Geld- und Kreditpolitik müssten gemeinsam festgelegt werden. In diesem Zusammenhang müssten die den Mitgliedsländern zur Verfügung stehenden geld- und kreditpolitischen Instrumente im Hinblick auf ihre Kohärenz schrittweise angepasst werden. Um die Koordinierung der internen Geld- und Kreditpolitik zu gewährleisten, seien vorherige und obligatorische Konsultationen im Ausschuss der Zentralbankpräsidenten durchzuführen14. Die Harmonisierung der währungspolitischen Instrumente sei eine Notwendigkeit für die Wirksamkeit der Koordinierung und die gegenseitige Unterstützung der Geld- und Kreditpolitik.


Der Weg zur Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion erfordere schon in der ersten Stufe eine Intensivierung der Zusammenarbeit in der externen Währungspolitik. Die Solidarität der Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer Wechselkursparitäten sollte ihren Niederschlag in einer Verstärkung der Konsultationsverfahren auf diesem Gebiet finden. Es sollten erste Schritte in Richtung auf die allmähliche Errichtung einer gemeinsamen Vertretung der EWG beim IWF und bei anderen internationalen Finanzorganisationen getan werden. Die Gemeinschaft werde in den Währungsbeziehungen zu Drittländern und internationalen Organisationen schrittweise gemeinsame Standpunkte einnehmen müssen. Sie dürfe in den Wechselkursbeziehungen zwischen Mitgliedsländern nicht mehr von etwaigen Vorschriften Gebrauch machen, die eine Auflockerung des internationalen Wechselkurssystems ermöglichen. In diesem Zusammenhang schlägt die Werner-Gruppe detaillierte Maßnahmen vor.15 Es sei unerlässlich, eine gründliche Studie über die Bedingungen für die Schaffung und die Arbeitsweise sowie die Satzung des „Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit“ durchzuführen (der in Kapitel VI des Berichts ausführlich beschrieben ist), der den erforderlichen Übergang zu dem in der Endstufe vorgesehenen gemeinschaftlichen Zentralbanksystem zu gewährleisten habe.


Im Verlauf der ersten Stufe seien institutionelle Bestimmungen zu erarbeiten. So müssten die Vorarbeiten zur Anpassung und Ergänzung des Vertrages abgeschlossen werden, damit nach dem in Artikel 236 des Vertrages von Rom vorgesehenen Verfahren rechtzeitig vor Ende der ersten Stufe eine Regierungskonferenz einberufen werden kann, die mit entsprechenden Vorschlägen befasst würde. Damit sei das Verfahren in die Wege geleitet, mit dem die rechtlichen Grundlagen für den Übergang zur vollständigen Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion und für die damit verbundenen wesentlichen institutionellen Reformen geschaffen werden könnten. An Hand einer Bilanz, die eine Beurteilung der auf allen Gebieten erzielten Fortschritte erlaubt, könne der Rat dann ein neues Aktionsprogramm aufstellen; gewisse Maßnahmen dieses Programms könnten auf der Grundlage des Vertrages in Angriff genommen werden, andere Maßnahmen müssten bis zur Vertragsänderung zurückgestellt werden.



Nach der ersten Stufe: der Übergang zum Endpunkt


Auf die erste Stufe folgt eine anschließende Phase, deren Grundzüge von der Werner-Gruppe festgelegt wurden. Diese Maßnahmen erforderten zunächst eine noch engere Koordinierung der nationalen Politiken, sodann ihre Harmonisierung durch Annahme gemeinsamer Richtlinien und Entscheidungen und schließlich die Übertragung von Befugnissen von den nationalen auf die Gemeinschaftsinstanzen. Mit fortschreitender Verwirklichung des Programms müssten gemeinschaftliche Instrumentarien geschaffen werden, welche die nationalen Instrumentarien ersetzen oder ergänzen.


Die Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik sollte in den Grundzügen bereits erreicht sein; sie werde später durch eine immer stärkere Berücksichtigung des gemeinsamen Interesses weiter ausgebaut werden müssen. Dies werde zuerst in der Konjunkturpolitik geschehen müssen. Hierzu gelte es, die noch bestehenden Gegensätze und die bereits erreichten Gemeinsamkeiten der nationalen Politiken herauszuarbeiten. Sodann werde es unerlässlich sein, Strategien für die Verwirklichung eines gemeinschaftlichen Optimums zu entwickeln, das nicht unbedingt nur die Summe der nationalen Optima zu sein brauche. Parallel hierzu gelte es, eine zunehmende Verbindlichkeit bei der Ausarbeitung und der allgemeinen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik einzuführen und eine ausreichende Harmonisierung der Währungs- und Haushaltspolitik sicherzustellen.


Die Programme für die mittelfristige Wirtschaftspolitik seien mehr und mehr auf gemeinschaftliche Ziele abzustellen. Die während der ersten Stufe entwickelten gleichartigen Instrumente der Haushaltspolitik müssten schrittweise gemeinsam eingesetzt werden. Die Beseitigung der verschiedenen Hindernisse und die Harmonisierung der finanziellen Strukturen sollten es ermöglichen, über die schrittweise Verflechtung der nationalen Märkte zu einem echten gemeinsamen Kapitalmarkt zu gelangen.


Neben einer gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtspolitik müssten Maßnahmen zur Lösung der strukturellen Probleme, die in einem engen Zusammenhang mit der Verwirklichung dieses Prozesses stehen, erwogen werden. Die Gemeinschaftsmaßnahmen auf diesem Gebiet müssten vor allem die Regionalpolitik und die Beschäftigungspolitik betreffen. Ihre Durchführung werde durch die Zunahme der finanziellen Maßnahmen auf der Ebene der Gemeinschaft erleichtert. Außerdem sei es wichtig, in der Industriepolitik, der Verkehrspolitik, der Energiepolitik, der Wohnungsbaupolitik und der Raumordnungspolitik Schritt für Schritt zu gemeinschaftlichen Orientierungen zu gelangen.


Auch die Verstärkung der innergemeinschaftlichen Beziehungen auf währungspolitischem Gebiet müsse so gestaltet werden, dass der Übergang zur Wirtschafts- und Währungsunion erleichtert wird, in der das Gleichgewicht zwischen den Wirtschaften der Mitgliedstaaten durch die Freizügigkeit der Produktionsfaktoren und finanzielle Übertragungen des privaten und des öffentlichen Sektors gewährleistet werde. Die bereits erzielten Fortschritte in der Konvergenz der Wirtschafts- und Währungspolitik sollten im Verlauf der zweiten Stufe so groß werden, dass die Mitgliedsländer möglichst nicht mehr gezwungen sind, zu autonomen Paritätsänderungen Zuflucht nehmen zu müssen. Endgültig ausgeschlossen seien autonome Paritätsänderungen mit dem Eintritt in die Endphase.


Zur Vorbereitung der Endstufe sollte sobald wie möglich unter der Verantwortung der Zentralbanken ein „Europäischer Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit“ geschaffen werden. Sofern die für die erste Stufe vorgesehenen Interventionstechniken auf den Devisenmärkten normal und reibungslos funktionieren und eine ausreichende Konvergenz der Wirtschaftspolitik erreicht ist, könne der Fonds eventuell schon in der ersten Stufe errichtet werden. Jedenfalls sollte er aber im Verlauf der zweiten Stufe geschaffen werden. In diesen Fonds sollten der kurz- und mittelfristige Währungsbeistand eingegliedert werden. Entsprechend den auf dem Wege der Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion erreichten Fortschritten würde der Fonds Schritt für Schritt ein Organ für die gemeinschaftliche Verwaltung der Reserven werden und in der Endstufe in das dann zu schaffende gemeinschaftliche Zentralbanksystem übergehen. Außerdem müsste die Harmonisierung der währungspolitischen Instrumente vorangetrieben werden, um eine Verstärkung der gemeinschaftlichen Währungspolitik zu erleichtern.


1 „Im Hinblick auf die Umsetzung seiner Beschlüsse und um bestimmte institutionelle und technische Aspekte der getroffenen Vereinbarungen schnellstmöglich genauer zu definieren, fordert der Rat die unter dem Vorsitz von Herrn Werner arbeitende Ad-hoc-Gruppe auf, ihm Anfang September 1970 ihren Schlussbericht vorzulegen. Er hat ihr Mandat präzisiert und sie insbesondere mit der konkreten Ausarbeitung der praktischen Modalitäten für die erste Stufe beauftragt.“ Vgl. Vom belgischen Vorsitz verfasstes Schlusskommuniqué der Tagung des Ministerrats, Luxemburg, 8.-9. Juni 1970. Familienarchiv Pierre Werner, Ref. PW 048, „Intégration monétaire de l’Europe. Le Plan Werner: 1970“.

2 Ebenda.

3 Siehe Kapitel 2 „Einsetzung des Werner-Ausschusses und Verlauf seiner Arbeiten (März-Oktober 1970)“.

4 Siehe Abschnitt 2.2 „Verlauf der Arbeiten des Werner-Ausschusses“.

5 Bericht an Rat und Kommission über die stufenweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft (Werner-Bericht). Luxemburg, 8. Oktober 1970, Sonderbeilage zum Bulletin 11/1970, S. 12. Quelle: www.cvce.eu. (Dokument eingesehen am 10. Oktober 2012.)

6 Die Rolle des wirtschaftspolitischen Entscheidungsgremiums wird hinsichtlich der Höhe und Entwicklung der Haushaltssalden sowie der Art der Finanzierung der Defizite oder der Verwendung der Überschüsse als besonders entscheidend gewertet.

7 Ebenda., S. 14.

8 Mit drei Untersuchungen pro Jahr wird der Zeitplan absichtlich relativ flexibel gehalten. Nach Auffassung der Werner-Gruppe sollten die Untersuchungen aber an festen Terminen stattfinden. Anfangs würden sie so gewählt werden müssen, dass die bestmögliche Anpassung an die in den Mitgliedstaaten für die Aufstellung und Verabschiedung der Haushalte geltenden Termine erreicht wird. In der Folge müssten diese Termine synchronisiert werden, um zu einer größeren Wirksamkeit bei der Koordinierung der Politik zu gelangen. Eine erste Untersuchung im Frühjahr sollte dazu dienen, eine Bilanz über die Wirtschaftspolitik des vergangenen Jahres zu erstellen und die Wirtschaftspolitik des laufenden Jahres gegebenenfalls an die Erfordernisse der Wirtschaftsentwicklung anzupassen. Gleichzeitig sollte ein erster Meinungsaustausch zur Vorbereitung der darauffolgenden Tagung stattfinden. Ferner sollten die mittelfristigen quantitativen Projektionen fortgeschrieben werden, und zwar nach dem gleichen Verfahren, das für die Aufstellung der Programme für die mittelfristige Wirtschaftspolitik gilt. Um zur Festlegung quantitativer Orientierungsdaten für die Eckwerte der öffentlichen Gesamthaushalte des nächsten Jahres zu gelangen und es den Regierungen zu ermöglichen, über die gemeinschaftlichen Reaktionen informiert zu werden, bevor sie den Entwurf ihres ordentlichen und außerordentlichen Haushalts endgültig verabschieden, sollte eine zweite Untersuchung kurz vor Jahresmitte erste Orientierungen für die Politik des nächsten Jahres festlegen und außerdem die Wirtschaftspolitik für das laufende Jahr erneut behandeln. Diese Analyse werde im Rahmen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung durchgeführt und die Aufstellung von Vorwirtschaftsbudgets ermöglichen. Schließlich könnten bei einer Untersuchung im Herbst die im Sommer erarbeiteten Orientierungen detaillierter festgelegt werden. Dabei seien untereinander kompatible Wirtschaftsbudgets aufzustellen. Für die Haushaltspolitik sollen sie die gleichen Elemente wie bei der vorhergehenden Untersuchung enthalten und darüber hinaus neue, vorher noch nicht verfügbare Zahlen. Die in den Wirtschaftsbudgets festgelegten Orientierungsdaten würden den zuständigen Behörden auch Anhaltspunkte für die Geld- und Kreditpolitik liefern. Bei dieser Prüfung werde der Rat auf Vorschlag der Kommission einen „Jahresbericht zur Wirtschaftslage der Gemeinschaft“ verabschieden, der vor allem die Orientierungen für die kurzfristige Wirtschaftspolitik des folgenden Jahres angibt. Die Empfehlungen zur Orientierung der Wirtschaftspolitik würden sich in spezifischer und detaillierter Form an jeden einzelnen Mitgliedstaat wenden müssen. Die Gruppe schlägt ferner vor, an eine allgemeine Vereinbarung zu denken, dass sich das jeweils betroffene Land der Stimme enthält, falls über derartige Empfehlungen abgestimmt wird.

9 „[…] die Grundzüge der Wirtschaftspolitik sollten […] erst beschlossen werden, nachdem die Sozialpartner konsultiert worden sind“. Vgl. Bericht an Rat und Kommission über die stufenweise Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion in der Gemeinschaft (Werner-Bericht). Luxemburg, 8. Oktober 1970. In Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Sonderbeilage zum Bulletin 11/1970, Luxemburg, Oktober 1970, S. 19.

10 Als Beispiele sind auf der Einnahmenseite die „Steuerregulatoren“ und auf der Ausgabenseite die „Konjunkturbudgets“ zu nennen. Die Steuerregulatoren ermöglichen es, Steuersätze in bestimmtem Ausmaß und für begrenzte Zeit rasch zu ändern; die Konjunkturbudgets erlauben es, den endgültigen Haushalt um einen bestimmten Prozentsatz der Ausgaben zu erhöhen oder zu kürzen.

11 Hierbei handelt es sich namentlich um die Harmonisierung der Besteuerung von Zinserträgen aus dem Besitz festverzinslicher Wertpapiere sowie der Dividendenbesteuerung. Außerdem wäre es notwendig, die Angleichung der Struktur der Körperschaftsteuern einzuleiten und voranzutreiben.

12 In den prozesspolitischen Fragen müssten die Mitgliedstaaten einander regelmäßig über ihre Politik zur Erhaltung des Marktgleichgewichts und über die Probleme konsultieren, die der Kapitalverkehr innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft mit sich bringt. Sie müssten dabei eine Abstimmung der einzelstaatlichen Politik auf diesen Gebieten anstreben.

13 Bei den strukturpolitischen Fragen geht es um Maßnahmen zur Harmonisierung bestimmter Anlageformen sowie um die Rechtsvorschriften für „technische“ Transaktionen auf einer Reihe von Gebieten - hierzu gehören u. a. die Vorschriften über die Tätigkeit der Kreditinstitute und der institutionellen Anleger, die Information und der Schutz der Wertpapierbesitzer, der Wertpapierhandel an den Börsen und die Sparförderung.

14 Diese Konsultationen sollen nach folgenden Modalitäten durchgeführt werden: Der Ausschuss der Zentralbankpräsidenten untersucht regelmäßig, mindestens zweimal jährlich, die Lage und die Politik jedes Mitgliedslandes auf monetärem Gebiet. Nach jeder Prüfung würden unter Berücksichtigung der vom Rat für die Wirtschaftspolitik erarbeiteten Schlussfolgerungen Orientierungen für die Geld- und Kreditpolitik festgelegt, namentlich hinsichtlich des Zinsniveaus, der Entwicklung der Bankenliquidität und der Kreditgewährung an den privaten und den öffentlichen Sektor. Die zu treffenden Maßnahmen sollten den vom Ausschuss der Zentralbankpräsidenten festgelegten Orientierungen entsprechen und vor ihrer Anwendung Gegenstand einer wechselseitigen Information sein.

15 Schon zu Beginn der ersten Stufe sollten die Zentralbanken versuchsweise durch abgestimmtes Vorgehen die Wechselkursschwankungen zwischen ihren Währungen „de facto“ innerhalb engerer Bandbreiten halten als denen, die sich aus der Anwendung der für den Dollar zum Zeitpunkt der Einführung des Systems bestehenden Bandbreiten ergeben. Dieses Ziel könnte durch eine abgestimmte Aktion gegenüber dem Dollar erreicht werden. Nach dieser Experimentierperiode könnte die Verringerung der Bandbreiten amtlich verkündet werden.

Das konzertierte Vorgehen gegenüber dem Dollar könnte durch Interventionen in Gemeinschaftswährungen - zunächst an den Grenzpunkten, dann innerhalb der Bandbreiten - ergänzt werden. Diese Interventionen sollten jedoch so gestaltet werden, dass damit für die erste Stufe keine über das kurzfristige Währungsbestandssystem hinausgehenden Kreditfazilitäten verbunden sind.

Es könnten weitere Verkleinerungen der Bandbreiten der Wechselkurse zwischen Gemeinschaftswährungen beschlossen werden. Die erste der oben angegebenen Maßnahmen sollte zu Beginn der ersten Stufe getroffen werden, nachdem der Rat den Plan für die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion angenommen hat. Für die weiteren Maßnahmen zog es die Gruppe vor, keinen starren Zeitplan vorzuschlagen. Sie regt daher an, dass der Ausschuss der Zentralbankpräsidenten dem Rat und der Kommission zweimal jährlich Bericht erstattet über den Verlauf der Aktionen und über die Zweckmäßigkeit, neue Maßnahmen zu treffen. Auf der Grundlage dieser Berichte und je nach den bei der Konvergenz der Wirtschaftspolitik erzielten Fortschritten werden der Rat oder die im Rat vereinigten Mitgliedstaaten die geeigneten Entscheidungen zu treffen haben. Für „de facto“-Verringerungen der innergemeinschaftlichen Bandbreiten, die sich aus dem konzertierten Vorgehen der Zentralbanken ergeben können, ist dieses Verfahren jedoch nicht erforderlich.

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