Die schwierige Frage der institutionellen Reform der EU: ist der deutsch-französische Motor ins Stocken geraten?

Die schwierige Frage der institutionellen Reform der EU: Ist der deutsch-französische Motor ins Stocken geraten?

 

Die Unzulänglichkeiten des Vertrags von Nizza machen eine Reform sämtlicher EU-Institutionen immer dringlicher, denn diese müssen auf den Beitritt der beitrittswilligen Staaten vorbereitet sowie effizienter und für die Unionsbürger transparenter gestaltet werden. Am 15. Dezember 2001 beschließt der Europäische Rat von Laeken die Einberufung eines „Konvents zur Zukunft Europas“, der die Ausarbeitung eines „Entwurfs eines Verfassungsvertrags“ beschließen soll.

 

Der Rat ernennt den ehemaligen Präsidenten der Französischen Republik, Valéry Giscard d’Estaing, zum Vorsitzenden, dem als Vizepräsidenten der ehemalige italienische Ministerpräsident Giuliano Amato und der ehemalige belgische Premierminister Jean-Luc Dehaene zur Seite gestellt werden. Darüber hinaus gehören dem Konvent 15 Vertreter der Staats- und Regierungschefs (einer pro Mitgliedstaat), 30 Abgeordnete der nationalen Parlamente (zwei pro Mitgliedstaat), 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und zwei Vertreter der Europäischen Kommission an. Auch die zehn beitrittswilligen Länder werden vertreten und an den Diskussionen beteiligt sein, ohne allerdings eine Konsensbildung verhindern zu können.

 

Um alle Bürger in die Debatte einzubeziehen, werden dem Konvent Beiträge der zivilgesellschaftlichen Organisationen (Sozialpartner, Wirtschaftskreise, Nichtregierungsorganisationen, Hochschulkreise) zugeleitet. Der Konvent wird seine Arbeiten am 1. März 2002 aufnehmen und soll sie innerhalb eines Jahres zum Abschluss bringen.

 

Am 28. Oktober 2002 ergreift Staatspräsident Giscard d’Estaing die Initiative im Konvent und legt seinen Vorschlag für ein Grundgerüst des künftigen Verfassungsvertrags vor. Die einzig praktikable Lösung für das Problem, die Effizienz der Institutionen erhöhen zu müssen, ohne jedoch föderalistische Strukturen einführen zu können, sieht Giscard d’Estaing in der Aufrechterhaltung des dem gemeinschaftlichen System zugrundeliegenden „institutionellen Dreiecks“ und der Stärkung seiner drei Zweige: Parlament, Rat und Kommission.

 

Zu gleicher Zeit ändert sich mit dem Hinzukommen mehrerer Außenminister, unter anderem von Joschka Fischer für Deutschland und Dominique de Villepin für Frankreich, die von nun an ihre Länder vertreten, das Klima im Konvent.

 

Vor allem der französische Staatspräsident Chirac und Bundeskanzler Schröder haben ihre Standpunkte einander angenähert und regen gemeinsame Vorschläge zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zur Justiz, zur wirtschaftspolitischen Steuerung und zu den Institutionen an, so das feste Amt eines Präsidenten des Europäischen Rates (von Frankreich angestrebt), ein vom Parlament und damit unter Berücksichtigung der Europawahlen gewählter Präsident der Kommission (von Deutschland angestrebt), ein Minister für auswärtige Angelegenheiten, der zugleich Mitglied der Kommission ist sowie die Trennung der legislativen und exekutiven Aufgaben des Rates. Diese Vorschläge stoßen auf lebhaftes Interesse im Konvent, aber auch auf Kritik. Die Vertreter der kleinen und mittelgroßen Länder unter den Fünfzehn und sämtlicher Bewerberländer fordern die Gleichstellung aller Staaten, die Beibehaltung der auf alle Unionsländer erweiterten Kommission und die Beibehaltung des turnusmäßig wechselnden EU-Ratsvorsitzes.

 

Grundsätzlich sieht der Vorschlag den Posten eines für mehrere Jahre gewählten hauptamtlichen Ratspräsidenten und eines Außenministers, der zugleich Vizepräsident der Kommission sein soll, die Berechnung der qualifizierten Mehrheit im Rat unter Zugrundelegung der Mehrheit der Mitgliedstaaten und der Bevölkerungsgröße (66 %) und eine zahlenmäßig verkleinerte Kommission vor, deren Präsident vom Europäischen Parlament gewählt wird.

 

Mit dieser Struktur soll ein Gleichgewicht zwischen den großen und bevölkerungsreichsten Ländern und wichtigsten Beitragszahlern zum EU-Haushalt und den übrigen Ländern geschaffen werden, die zwar zahlenmäßig überwiegen, aber weit geringere Bevölkerungszahlen aufweisen und im Allgemeinen Empfänger von Gemeinschaftsbeihilfen sind. Sie kommt damit Deutschland, Frankreich und Italien zupass, doch Spanien und Polen verlieren die übermäßigen Vorteile, die ihnen aus dem Vertrag von Nizza erwuchsen. Gleiches gilt für die übrigen mittelgroßen und kleinen Länder, die ihren Wunsch zum Ausdruck bringen, das System der Stimmengewichtung im Rat beizubehalten, und die der von Deutschland und Frankreich angeregten „verstärkten Zusammenarbeit“ mit Misstrauen begegnen, die es einigen Ländern ermöglichen würde, schneller als andere voranzuschreiten.

 

Schließlich nimmt der Europäische Rat von Brüssel (17.-18. Juni 2004) die Europäische Verfassung nach den Wahlen zum Europäischen Parlament trotz der getrübten Beziehungen zwischen seinen Mitgliedern an. Allerdings lehnt das Vereinigte Königreich die von Deutschland und Frankreich vorangetriebene Ernennung von Guy Verhofstadt zum Nachfolger von Kommissionspräsident ab. Die Beziehungen zwischen Tony Blair einerseits und Jacques Chirac und Gerhard Schröder andererseits sind sehr gespannt. Aber es muss eine Lösung gefunden werden, denn nach der äußerst hohen Zahl der Nichtwähler bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wäre ein Scheitern katastrophal.

 

Der „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ wird von den Vertretern der 25 am 29. Oktober 2004 im Festsaal des Kapitols in Rom feierlich unterzeichnet, wo bereits die Verträge von Rom zwischen den sechs Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet worden waren.

 

Während Deutschland und Frankreich viel zur Ausarbeitung des Vertrags über eine Verfassung für Europa beigetragen haben, trennen sich ihre Wege bei der Ratifizierung. In Frankreich beschließt Jacques Chirac eine Volksabstimmung, wie sie schon beim Vertrag von Maastricht organisiert worden war. Am 29. Mai 2005 wird der Verfassungsvertrag in einer Volksabstimmung, an der sich 70 % der Bevölkerung beteiligen, mit der deutlichen Mehrheit von 54,87 % abgelehnt. Diese Ablehnung, die von der nationalistischen Rechten und den antikapitalistischen Linksextremen vorhergesehen worden war, wurde noch verstärkt durch das schlechte politische Klima und vor allem durch die Schwierigkeiten im sozialen Bereich (anhaltende Arbeitslosigkeit, stagnierende Kaufkraft, Zukunftsängste), die benutzt wurden, um nicht nur dem Vertrag, sondern dem Konzept des „liberalen Europas“ selbst eine Absage zu erteilen. In Deutschland dagegen wurde der Vertrag im Parlament mit überwältigender Mehrheit ratifiziert. Hätte jedoch ein Referendum stattgefunden – was das Grundgesetz verbietet –, wäre das Ergebnis den Umfragen zufolge ebenfalls unsicher gewesen, aus vergleichbaren politischen und sozialen Gründen.

 

Von diesem Misserfolg erschüttert, besteht das deutsch-französische Duo trotzdem fort – aufgrund der engen Bande, die in den zurückliegenden fünfzig Jahren zwischen den beiden Ländern geknüpft wurden. Es gibt für keinen von beiden eine glaubhafte Alternative. Chirac und Schröder haben das eingesehen, als sie sich auf dem Europäischen Gipfel vom 15.-17. Juni in der Frage des Haushalts der Union für den Zeitraum 2006-2013 gemeinsam gegen Tony Blair stellen. Diese beiden Länder, die für ein politisches Europa eintreten, müssen einen Weg finden, um die wesentlichen Errungenschaften des Verfassungsvertrags zu retten und der erweiterten Union die Effizienz zu verleihen, die sie mit dem Vertrag von Nizza nicht hat. Frankreich und Deutschland müssen auch ihre Differenzen überwinden und ein wirtschaftliches und soziales Modell vorstellen, das über den englischen Liberalismus hinausgeht und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit erhöht, damit die Union bürgernaher wird und die Bürger besser an den Zielen und dem Leben der Europäischen Union teilhaben können.

 

In einem erweiterten Europa haben Frankreich und Deutschland nicht mehr das relative Gewicht, das sie bisher immer wieder einsetzen konnten, um die europäische Integration voranzutreiben. Ihr Gewicht im Parlament, im Rat und in der Kommission ist geringer geworden. Aber sie können weiter als Impulsgeber handeln. Dazu könnte sich das Duo verstärken, indem es sich einer Familie von Partnern öffnet, die ihre Werte teilen, allen voran Belgien, Luxemburg, Spanien und Polen.

 


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