Themendossier

Vom Treffen in Colombey-les-deux-Églises bis zum Elysée-Vertrag (1958-1963)

Vom Treffen in Colombey-les-deux-Églises bis zum Élysée-Vertrag (1958-1963)


In den Jahren 1958-1963 ist die deutsch-französische Annäherung vor allem der besonderen Zusammenarbeit von zwei Männern zu verdanken: dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer. In der Bundesrepublik Deutschland ruft die Rückkehr General de Gaulles an die Spitze des Staates allerdings zunächst Skepsis hervor. Vielen sind noch die Worte des ehemaligen Chefs der französischen Résistance und Unterzeichners des französisch-sowjetischen Vertrags, der Deutschland zum Gegenstand hatte, am Ende des Zweiten Weltkriegs in Erinnerung. Als Verfechter einer militärischen, wirtschaftlichen und politischen Abspaltung von Rheinland, Ruhrgebiet und Saarland spricht sich De Gaulle vor allem für die Rückkehr zu einem bundesstaatlich geordneten Deutschlands aus. In der Folge erleidet Adenauer mit dem Engagement der Gaullisten gegen die Ratifizierung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) einen herben Rückschlag und sieht angesichts dieser Niederlage seine seit 1949 mit Robert Schumann und Jean Monnet verfolgten europapolitischen Bemühungen in Frage gestellt. Außerdem tun die wenig freundlichen Äußerungen de Gaulles zum Gemeinsamen Markt, sein unerschütterliches Festhalten an der Unabhängigkeit Frankreichs, seine Feindseligkeit gegenüber der NATO sowie sein Widerstand gegenüber einem supranationalen Europa ihr Übriges, um den deutschen Bundeskanzler zu beunruhigen.


Zur Überraschung vieler gelingt es de Gaulle und Adenauer allerdings auf einem ersten Treffen, eine große Zahl dieser Bedenken auszuräumen.


Am 14. September 1958 empfängt der französische Staatspräsident den deutschen Bundeskanzler in seinem Haus in Colombey-les-deux-Églises. Konrad Adenauer sollte der einzige ausländische Regierungschef sein, der jemals die Privatresidenz General de Gaulles, La Boisserie, besuchen würde. Die beiden Staatsmänner tauschen sich über die weltpolitische Lage, insbesondere die Organisation des gemeinschaftlichen Europas, die sowjetische Bedrohung, die deutsche Teilung und die euro-atlantischen Beziehungen aus. Der Adenauer-Biograf bezeichnet das Zusammentreffen der beiden Staatsmänner als wahrhafte „Flitterwochen“. In einer Abschlusserklärung bekräftigen der Bundeskanzler und der Staatspräsident ihren Willen, die Erbfeindschaft der Vergangenheit endgültig zu beenden, und sprechen sich für eine enge Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik aus, die sie als Fundament für das europäische Einigungswerk betrachten. Diese Gespräche bilden den Ausgangspunkt für eine persönliche Freundschaft, die einen wichtigen Anteil an der Annäherung zwischen den beiden Ländern haben sollte. Seit diesem Tag sind Adenauer und de Gaulle in den Jahren 1958 bis 1963 insgesamt 15-mal zu Gesprächen zusammengekommen und haben sich etwa vierzig Briefe geschrieben.


Allerdings ist das verbesserte Klima nur von kurzer Dauer, weil ein Memorandum des französischen Staatspräsidenten vom 17. September 1958 an US-Präsident Dwight D. Eisenhower und den britischen Premierminister Harold Macmillan bei Adenauer zu Irritationen führt. De Gaulle spricht sich darin für ein gleichberechtigtes Nato-Dreier-Direktorium, dem die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich angehören solle und das Gespräche über die Atomstrategie führen soll. Adenauer, der weder konsultiert noch informiert worden war, betrachtet dieses Vorgehen als persönlichen Affront. Die Beziehungen zu General de Gaulle sind fortan von einem gewissen Misstrauen Adenauers geprägt.


Zehn Wochen nach dem Treffen von Colombey, am 26. November 1958, empfängt der deutsche Bundeskanzler den französischen Staatspräsidenten zu einem Gegenbesuch in Bad Kreuznach. Im Rahmen der Gespräche teilt General de Gaulle dem Gastgeber seine Absicht mit, die Vollendung des Binnenmarkts zu beschleunigen, verlangt jedoch im Gegenzug, dass die Bundesrepublik Deutschland die britischen Pläne zur Errichtung einer großen Freihandelszone ablehnt. De Gaulle will sein Land in den Bereichen Wirtschaft und Währung zu einer Teilnahme am Gemeinsamen Markt befähigen, von dem er sich Impulse für eine Modernisierung des verarbeitenden Gewerbes in Frankreich erhofft.


Ferner bringt der französische Staatspräsident vor dem Hintergrund der Drohungen aus Moskau, den Viermächte-Status Berlins zu beenden, seine uneingeschränkte Unterstützung für die Bundesrepublik Deutschland in der Berlin-Frage zum Ausdruck. Kurz nach dem deutsch-französische Treffen stellt der sowjetische Staatschef den Westmächten ein Ultimatum und verlangt, dass sie West-Berlin innerhalb von sechs Monaten zu einer freien und entmilitarisierten Stadt unter UN-Kontrolle machen. Nach Ablauf dieser Frist droht die UdSSR damit, ihre Berlin-Rechte an die DDR zu übertragen. Während die Briten und die US-Amerikaner zunächst um einen Kompromiss bemüht sind, um einen neuerlichen Konflikt zu umgehen, weist de Gaulle vehement jegliche Änderung des Status von Berlin zurück.


Nach dem Treffen von Bad Kreuznach kommen die beiden Staatsmänner erneut am 29. und 30. Juli 1960 im Schloss Rambouillet zusammen. Die Gespräche zwischen General de Gaulle und seinem Staatsgast Konrad Adenauer drehen sich hauptsächlich um die Schaffung einer politischen Union in Europa, die Frage der europäischen Sicherheit und die Reform des Atlantischen Bündnisses, das nach Meinung de Gaulles zu sehr von den USA bestimmt wird. Für ihn besteht ein enger Zusammenhang zwischen politischen und verteidigungspolitischen Fragen. Damit Europa zu einer Einheit wird, die in der Weltpolitik eigenständig handeln könne, müsse es sich, so de Gaulle, im Verteidigungsbereich organisieren, was unweigerlich eine Reform der NATO erfordere.


Zum Abschluss der Gespräche übermittelt der Präsident eine Note an den Bundeskanzler, in der er erklärt, dass es zunächst darum gehen müsse, die französisch-deutsche Achse zu errichten, und um diese Kerngruppe herum werde sich Europa anschließend formieren. Ferner legt er seine Vorstellungen von einer europäischen politischen Union dar und regt vor allem regelmäßige Zusammenkünfte zwischen Ministern und Staats- oder Regierungschefs, die Einrichtung von Kommissionen, denen Beamte angehören, und die Bildung einer konsultativen europäischen Versammlung aus Delegationen der nationalen Parlamente an. Eine solche Organisationsform müsse in einem Referendum bestätigt werden. Was de Gaulle Adenauer letzten Endes vorschlägt, ist nicht mehr und nicht weniger als der Aufbau einer politischen Zusammenarbeit zwischen den Sechs. Trotz gewisser Vorbehalte stimmt Adenauer der Mehrzahl dieser Vorschläge zu. Allerding gibt es Vertreter der deutschen Bundesregierung, die der Auffassung sind, dass der Bundeskanzler zu nachgiebig mit General de Gaulle gewesen sei, sodass sich Adenauer einige Wochen nach dem Treffen von Rambouillet gezwungen sieht, seine Meinung zu revidieren und sich von einigen französischen Positionen zu distanzieren.


Die Vorschläge, die de Gaulle in Rambouillet vorgelegt hat, lösen einen Diskurs über die Schaffung einer europäischen politischen Union aus. Auf dem Gipfel am 10. und 11. Februar 1961 in Paris beauftragen die Staats- und Regierungschefs der Sechs einen intergouvernementalen Ausschuss unter dem Vorsitz des französischen Diplomaten Christian Fouchet, die „Probleme in Bezug auf die europäische Zusammenarbeit, vor allem jene, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gemeinschaften stehen“, zu untersuchen. Am 2. November 1961 legt der „Fouchet-Ausschuss“ seinen Vertragsentwurf vor, der unter der Bezeichnung „Fouchet-Plan I“ bekannt wird. Darin wird die Errichtung einer unauflöslichen Union von Staaten mit stark zwischenstaatlichem Charakter vorgeschlagen.


Der Entwurf sieht vor, dass der Rat als wichtigstes Organ über alle Fragen beraten soll, die auf Antrag eines oder mehrerer Mitgliedstaaten in die Tagesordnung aufgenommen werden. Er soll die für die Verwirklichung der Ziele der Union erforderlichen Entscheidungen einstimmig treffen, u. a. in Bezug auf die Festlegung einer gemeinsamen Außenpolitik und einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die Zusammenarbeit im Bereich der Wissenschaft und Kultur sowie die Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratie. Die Versammlung der Gemeinschaften bleibt als rein beratendes Organ bestehen. Schließlich soll eine europäische politische Kommission aus hohen Beamten der Außenministerien der Mitgliedstaaten damit betraut werden, den Rat bei der Vorbereitung und Durchführung der Diskussionen zu unterstützen.


Die europäischen Partner Frankreichs sind gegen diesen ersten Vertragsentwurf, da sie die französische Übermacht in den Außenbeziehungen der Sechs befürchten. Zudem lehnen sie die stärkere zwischenstaatliche Prägung der Institutionen ab, in der sie eine Bedrohung für die Unabhängigkeit und das supranationale Wesen der Gemeinschaftsorgane sehen. Angesichts des Widerstands verhärten sich die Fronten mit de Gaulle, und der Fouchet-Ausschuss legt am 18. Januar 1963 eine neue Fassung des Entwurfs vor (den „Fouchet-Plan II“): Der Union sollen wirtschaftliche Befugnisse übertragen werden, die ursprünglich den Gemeinschaften zukamen, die ihrerseits dem Organ der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit untergeordnet werden sollen.


Zu dem Zeitpunkt, da der Gemeinsame Markt in seine zweite Phase eintritt, kritisieren die Partner Frankreichs den Entwurf heftig und lehnen ihn erneut ab. Sie unterbreiten Gegenvorschläge, die in eine föderalistische Richtung weisen und ihrerseits von der französischen Regierung zurückgewiesen werden. Daher können die Außenminister am 17. April 1962 in Luxemburg nur noch ihre Uneinigkeit feststellen, und General de Gaulle macht das Ende der Bemühungen um ein politisches Europa offiziell. Auf einer viel beachteten Pressekonferenz prangert er die auf ein föderalistisches Europa hinauslaufenden Thesen an und kritisiert offen das Spiel der Angelsachsen. Das Scheitern des Fouchet-Plans führt zu einer ganzen Reihe von Krisen, welche allesamt von der Uneinigkeit über das Wesen des europäischen Einigungsprozesses, über die Machtbefugnisse der Gemeinschaftsorgane, über die Unabhängigkeit Europas und über die atlantische Solidarität geprägt sind. Die Staats- und Regierungschefs treten sieben Jahre lang nicht mehr zusammen. Aber dieses Scheitern führt auch zu einer Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen.


Zwischenzeitlich wird eine Annäherung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland auch durch die weltpolitische Lage begünstigt. Adenauers Misstrauen gegenüber dem neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, nimmt immer weiter zu, weil er diesen verdächtigt, eine Einigung mit der UdSSR anzustreben. Er sucht daher den Kontakt zu Frankreich. So ist es auch de Gaulle, der im Unterschied zu den Engländern und den Amerikanern am Tag nach dem Mauerbau in Berlin mit aller Entschiedenheit seine Meinung über das sowjetische Vorgehen zum Ausdruck bringt. Für Adenauer kann eine enge Zusammenarbeit zwischen Bonn und Paris als Bollwerk gegen die UdSSR dienen.


Im Juli 1962 reist Bundeskanzler Konrad Adenauer zum Staatsbesuch nach Frankreich. Bei diesem bis ins kleinste Detail geplanten Besuch wird die deutsch-französische Aussöhnung umfassend zur Schau gestellt: es gibt glanzvolle Empfänge in Paris, eine feierliche Messe in der Kathedrale von Reims und eine deutsch-französische Militärparade in Mourmelon. Im Verlauf der gemeinsamen Gespräche ruft de Gaulle zu einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern auf und spricht sich für privilegierte Beziehungen zwischen Frankreich und Westdeutschland aus. Zwei Monate später, vom 4. bis 9. September 1962, wird der französische Staatspräsident mit großen Ehren in der Bundesrepublik Deutschland empfangen. Von den Massen umjubelt, hält de Gaulle etwa zehn Reden - davon sechs in deutscher Sprache, die er auswendig gelernt hat - in denen er große Worte für die Annäherung zwischen den beiden Ländern findet. Trotz dieser vielversprechenden Staatsbesuche reißen die Zweifel der deutschen Regierung an der Politik de Gaulles nicht ab.


Auf einer Pressekonferenz vom 14. Januar 1963 im Élysée-Palast spricht sich der französische Staatspräsident Charles de Gaulle gegen einen Beitritt des Vereinigten Königreichs zum Gemeinsamen Markt aus. Er verlangt, dass Großbritannien alle Forderungen der Sechs akzeptiert und sein Engagement gegenüber den Ländern seiner Freihandelszone beendet. Ferner hält er die Wirtschaftsinteressen des kontinentalen Europas für unvereinbar mit denen Großbritanniens und betrachtet das Vereinigte Königreich in erster Linie als Trojanisches Pferd der USA. Mit einem Beitritt Großbritanniens würde das europäische Europa seiner Meinung nach zu einem atlantischen Europa verkommen. Seine Worte sind nicht nur ein herber Rückschlag für das europäische Einigungswerk und die atlantischen Beziehungen, sie bringen auch Konrad Adenauer in eine schwierige Lage. In Westdeutschland vertreten viele die Auffassung, dass die europäische Einheit und das Bündnis mit den Vereinigten Staaten nicht der deutsch-französischen Freundschaft geopfert werden sollte. Adenauer setzt sich jedoch über die Kritiker hinweg und hält an seiner Strategie der Annäherung mit Frankreich fest. Am 22. Januar 1963 unterzeichnen der deutsche Bundeskanzler und der französische Staatspräsident in Paris den Élysée-Vertrag, um die deutsch-französische Zusammenarbeit in den Bereichen Verteidigung, Wirtschaft und Kultur zu stärken.


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