Die unterschiedlichen Standpunkte in der Atompolitik

Meinungsverschiedenheiten in der Atompolitik


Bei der Umsetzung Euratoms verfolgen Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande unterschiedliche Interessen in der Atompolitik. Als Mitglied im Sicherheitsrat der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) und als Atommacht misst Frankreich diesem Sektor wesentlich mehr Bedeutung bei als die anderen Staaten, die die Nutzung der Atomenergie zunächst auf ausschließlich friedliche Zwecke beschränken wollen. Frankreich sucht nach einer europäischen Lösung für die Aufteilung der Kosten für die wissenschaftliche und zivile Forschung, um sich so besser auf den Bau eines nationalen nuklearen Schutzschildes konzentrieren zu können. Die nuklearen Forschungs- und Entwicklungsprogramme der Sechs sind nicht aufeinander abgestimmt und folgen meist einer nationalen oder handelspolitischen Logik. Von den Sechs ist Frankreich – das über natürliche Uranvorkommen verfügt – das Land mit dem größten Atomprogramm. Aber auch die Systeme des Eigentums der Produktionsmittel für die Stromerzeugung unterscheiden sich von Land zu Land. In Italien und Frankreich sind die Kernkraftwerke im Staatsbesitz, während sie sich in den Niederlanden, in Deutschland und Belgien teilweise in privater Hand befinden. Euratom kontrolliert nicht die militärischen Einrichtungen der Mitgliedstaaten.


Die strategischen Interessen Frankreichs


In Frankreich unterstützen die Regierungen der IV. Republik die Kernforschung im militärischen Bereich. Nach der Rückkehr Generals de Gaulle an die Macht im Juni 1958 werden die Forschungs- und Entwicklungsbemühungen weiter verstärkt. Frankreich will eine nukleare Streitmacht schaffen, die sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von der Gemeinschaft unabhängig ist; letztere unterzeichnet im November 1958 eine Vereinbarung über fünf Jahre zur Zusammenarbeit in der zivilen Kernenergie. Auf Anregung des Generals de Gaulle war bereits im Jahr 1945 die französische Atomenergiekommission (CEA) gegründet worden, die Frankreich dazu verhelfen sollte, ihren Status als Großmacht, der zu jener Zeit bestritten wird, wiederzuerlangen. Bei seinem Amtsantritt beendet de Gaulle unverzüglich die deutsch-französisch-italienische Zusammenarbeit. Die erste französische Atombombe wird am 13. Februar 1960 in Reggane in der algerischen Sahara gezündet. Doch es vergehen noch einige Jahre, bis Frankreich über die notwendigen Elemente für einen eventuellen Einsatz in seinen Streitkräften verfügt: U-Boote mit Atomantrieb, Düsenflugzeuge des Typs Mirage, ballistische Flugkörper …


Obwohl einige Stimmen die Einrichtung einer europäischen Gemeinschaft für Kernwaffen fordern, will der größte Teil der französischen Führung jegliche Einmischung der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom oder EAG) in die Herstellung von Atomwaffen in Frankreich vermeiden. Die französische Atomenergiekommission besteht auf der Wahrung ihrer Sonderstellung. Großbritannien ist das einzige Land in Westeuropa, das über einen technologischen Vorsprung in der Atomforschung verfügt. Frankreich verfolgt das britische Atomprogramm mit Interesse und bemüht sich um eine eventuelle Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Waffen. Das Land ist geteilt hinsichtlich der Möglichkeit, seinen europäischen Partnern seinen technischen Vorsprung zu Gute kommen zu lassen, den es gleichzeitig ausbauen möchte, um ein Gegengewicht zur wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands zu bilden. Aufgrund der Pariser Verträge von Oktober 1954 darf Deutschland keine ABC-Waffen besitzen (atomare, biologische, chemische).


Die wirtschaftlichen Interessen der fünf Partner


In den fünfziger Jahren sind die Befürworter der Atomenergie überzeugt, dass diese neue Energiequelle Erdöl und Steinkohle nach und nach ersetzen wird. Diese Vorhersagen werden durch die Tatsache bestärkt, dass die Ölkrise als Folge der Sueskrise im Sommer 1956 eine Explosion der Preise für Mineralölerzeugnisse nach sich zieht. Der Stopp der Öllieferungen aus dem Mittleren Osten macht den Europäern ihre Abhängigkeit in Energiefragen schlagartig bewusst. Die Reduzierung dieser Abhängigkeit wird somit zu einer Priorität der europäischen Energiepolitik.


Doch nach der politischen Entspannung im Mittleren Osten sinken die Ölpreise erneut, und die Atomenergie verliert an Wettbewerbsfähigkeit. Entgegen der pessimistischen Vorhersagen erweisen sich die weltweiten Erdölreserven zudem aufgrund der Entdeckung neuer Vorkommen in Iran, Niger und Argentinien, aufgrund des Ausbaus der Förderung in der Sowjetunion und der Entwicklung der Förderungstechnik für größere Tiefen und in der Nordsee als ausreichend. Das weltweite Angebot, das die Nachfrage mittlerweile weit übersteigt, führt unwiderruflich zu einer Senkung der Ölpreise während gleichzeitig die sinkenden Transportkosten immer umfangreichere Einfuhren von Erdölerzeugnissen nach Europa möglich machen. Anders gesagt erscheint die Kernenergie nicht mehr als das Allheilmittel. Im Gegenteil: Die Abhängigkeit der Gemeinschaft vom importierten Erdöl verdoppelt sich zwischen 1958 und 1969.


Für die europäischen Partner Frankreichs ist die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom oder EAG) zudem von sehr unterschiedlichem Interesse. Belgien und die Niederlande sehen in ihr ein Mittel zur Entwicklung ihrer eigenen zivilen Atomindustrie. Zumal Belgien seit 1944 über ein gesondertes Abkommen mit den Vereinigten Staaten verfügt, die ihm angereicherte Brennstoffe für Reaktoren liefern und dafür im Gegenzug Uran aus den Minen im belgischen Kongo erhalten. In Italien dagegen, das über keine Kohlevorkommen verfügt, spielt das Erdöl vor allem aufgrund des großen Einflusses des Staatskonzerns Ente nazionale idrocarburi (ENI) weiterhin eine wichtige Rolle. Zu Beginn der Verhandlungen setzt die Bundesrepublik Deutschland (BRD) große Hoffnungen auf die Atomgemeinschaft. Daraufhin beginnen die großen deutschen Stromerzeugungsunternehmen mit dem Bau ihrer eigenen Atomkraftwerke. Dabei ziehen sie jedoch amerikanische Partner vor, die eine weiter fortgeschrittene Technik als die Franzosen anbieten können.

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