Die Politik des leeren Stuhls

Die Politik des leeren Stuhls


Der vom Kommissionspräsidenten Walter Hallstein im Jahr 1965 erarbeitete Vorschlag zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ist der Auslöser der Krise um die so genannte „Politik des leeren Stuhls“. Der Vorschlag der Kommission zielt auf die Erhöhung der Eigenmittel der Gemeinschaften – unabhängig von den nationalen Beiträgen – ab und sieht zusätzliche Haushaltsbefugnisse für das Europäische Parlament und eine stärkere Rolle der Kommission vor. Zudem soll gleichzeitig mit dem Übergang zur dritten Stufe der Übergangsperiode zur Einrichtung der Gemeinsamen Marktes, die am 1. Januar 1966 eingeläutet wird, die Regel des Mehrheitsbeschlusses im Ministerrat zur Anwendung kommen. Frankreich kann einer solchen Entwicklung nicht zustimmen, die es als einen inakzeptablen Souveränitätsverzicht betrachtet. Darüber hinaus wirft Charles de Gaulle Walter Hallstein vor, seinen Vorschlag ohne Konsultation der Regierungen der Mitgliedstaaten vorbereitet zu haben. Er beschuldigt ihn, sich wie ein Staatschef aufzuführen. Frankreich fürchtet schließlich, dass eine Koalition von Mitgliedstaaten durch das Spiel der Mehrheitsbeschlüsse die gemeinsame Agrarpolitik in Frage stellt, die Frankreich nur mit Mühe bei seinen Partnern hat durchsetzen können.


Die Haltung Frankreichs, das dem Rat bis zum 30. Juni 1965 vorsitzt, verstärkt die latenten Unstimmigkeiten zwischen den Vorstellungen des Kommissionspräsidenten Hallstein und denen des Ministerrates. Maurice Couve de Murville, französischer Außenminister in der zweiten Pompidou-Regierung, lehnt jeden Kompromissvorschlag ab und provoziert so das Scheitern der Verhandlungen über die Finanzierung der Agrarpolitik. Am 1. Juli beruft die französische Regierung ihren ständigen Vertreter in Brüssel ab und verkündet die Absicht Frankreichs, nicht mehr an den Sitzungen des Ministerrates teilzunehmen, bis sie Recht bekommt. Dies ist der Beginn der „Politik des leeren Stuhls“ und einer schweren Krise. Zum ersten Mal seit Inkrafttreten der Römischen Verträge im Jahr 1958 blockiert ein Mitgliedstaat die Funktionsweise der EWG.

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