Der Leitspruch der Europäischen Union



Der Leitspruch der Union lautet „in Vielfalt geeint“. Wie alle anderen Symbole, versinnbildlicht der Leitspruch eindeutig die europäische Identität, die nicht nur die Europäische Union als Entität besitzt, sondern darüber hinaus jeder Bürger derselben. Nützliche Anhaltspunkte für die Deutung des Leitspruchs, der in Artikel I-8 des Verfassungsvertrags niedergeschrieben ist, lassen sich aus dessen Präambel entnehmen, in der in der fünften Erwägung die Formulierung „in Vielfalt geeint“ steht. Untersucht seien nun die beiden Begriffe des Leitspruchs der Europäischen Union: „Einheit“ und „Vielfalt“.


Der Spruch in Vielfalt geeint bezieht sich auf Europa, auf seine Werte sowie auf sein kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe. Diese Werte stellen zwei Hauptelemente in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens: auf der einen Seite die menschliche Person und ihre Rechte, auf der anderen Seite die Achtung des Rechts. Unbedingt Aufschluss über die Deutung des Leitspruchs bietet die in der vierten Erwägung enthaltene Passage der Präambel. Darin heißt es, dass die Völker Europas, stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte, entschlossen sind, die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam zu gestalten.


In diesem Satz kommt in der Tat das Element sowohl der Einheit als auch der Vielfalt deutlich zum Ausdruck. Die die Einheit ausdrückenden Begriffe sind nicht neu. Sie erinnern an die in der Präambel des Vertrags über die Europäische Union enthaltene Formel einer „immer engeren Union“, die entsprechend übernommen wird. Der Weg zu immer engeren Beziehungen verläuft stufenweise und geht – wie bereits in der Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 angekündigt – von konkreten Leistungen aus, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen. Die „Einheit“ ist jedoch kein Selbstzweck. Sie hat vielmehr ein ganz bestimmtes Ziel: das „Schicksal gemeinsam gestalten“. Aber auch der Begriff der Vielfalt wird darin klar zum Ausdruck gebracht. Er findet sich in dem eindringlichen Hinweis auf den Stolz der Völker auf ihre nationale Identität und Geschichte sowie auf die Wahrung der Rechte des Einzelnen.


Um den genauen Inhalt des Leitspruchs vollkommen erfassen zu können, muss der Nachdruck auf die Werte gelegt werden, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind und auf die sich mithin die Europäische Union gründet. In Artikel I-2 des Verfassungsvertrags werden sechs genannt: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte. Diese Werte kennzeichnen die europäische Gesellschaft, die sich ihrerseits durch Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet. Dem Artikel I-2 lassen sich weitere ausdrückliche Anhaltspunkte für den Leitspruch entnehmen. Der Hinweis sowohl auf „Einheit“ (Union, gemeinsam, Gesellschaft) als auch auf „Vielfalt“ (Pluralismus, Toleranz) fällt in der Tat ins Auge.


Entscheidend ist, dass zwischen Einheit und Vielfalt eine Balance gefunden wird. Zuviel Einheit kann nämlich die Gefahr der Homogenisierung und mithin der Zerstörung der nationalen Identitäten bedeuten. Zu große Vielfalt kann leicht eine Übereinstimmung der Ziele verhindern und mit der Zeit das Gebäude des vereinten Europa von seinen Grundfesten her aushöhlen. Ganz richtig erfasst hat die beiden Begriffe Jack Lang mit seiner Bemerkung „diversity is not division (…), difference is not indifference, union is not uniformity“. Wichtig erscheint daher die Suche nach der Einheit der Grundwerte, nach einer Einheit bei gleichzeitiger Differenzierung. Ende der 20er-Jahre prägte Ortega y Gasset diesbezüglich eine zu Recht berühmt gewordene Metapher: „Europa ist wie ein Schwarm: viele Bienen und nur ein Flug.“ Die Gefahren einer Implosion können aber auch systemimmanent sein. Von Giscard d’Estaing wurde dazu festgestellt, die bei den Brüsseler Institutionen vorherrschende Kultur unterschätze systematisch die Vielfalt, da sie ihrer Ansicht nach ein Hindernis auf dem Weg zur Homogenisierung Europas bildet. Die Homogenisierung stellt andererseits eines der Ziele dar, die diese Kultur zu erreichen beabsichtigt, indem sie versucht, sie durch vereinheitlichende Vorschriften und Druck auf Identitätsmechanismen von oben aufzuzwingen. Für Giscard d’Estaing hingegen liegt die Vielfalt in dem genetischen Erbe unseres Kontinents, wo es keine Einigungselemente wie eine einzige Sprache, eine gemeinsame Religion oder die Ausübung einer zentralisierten Macht gibt, die ein einheitliches europäisches Modell aufzwingen könnte. Giscard d’Estaing stellt fest, dass es in den fünfzig Jahren des Einigungsprozesses nicht gelungen ist, den Lebensstil der Europäer zu vereinheitlichen. Da Europa, so angezeigt dies auch wäre, nicht auf die Assimilierung – die aus einer gemeinsamen Sprache (wie in den Vereinigten Staaten, die allerdings wie Europa dabei sind, ein mehrsprachiges Land zu werden) oder aus einer überwiegenden Bevölkerung (wie in China, wo 80 % Angehörige der Han-Volksgruppe sind) resultiert – zurückgreifen kann, muss es sich ausgehend von seiner Vielfalt organisieren, und nicht gegen seine Vielfalt. Es muss, anders gesagt, ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen seiner erforderlichen Vielfalt und dem notwendigen Aufbau eines kohärenten Ganzen finden.

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