Die Ruhrfrage
Die Internationale Ruhrbehörde
Die Besatzung Deutschlands durch die vier Alliierten, die nach dem Untergang des Dritten Reichs im Jahr 1945 eingerichtet worden war, stößt schnell an ihre Grenzen. In Wirklichkeit versucht jede der vier Mächte ihr eigenes System in ihrer Besatzungszone einzuführen, ohne wirklich darauf zu achten, was anderswo passiert. Bezüglich des Ruhrgebiets, der am stärksten industrialisierten Region Europas, formuliert Frankreich außerdem Forderungen, die die anderen Besatzungsmächte schnell als inakzeptabel empfinden. Das französische Außenministerium verlangt Garantien für die Sicherheit Frankreichs durch Forderung nach der Internationalisierung des Eigentums an den Bergwerken und der deutschen Eisen- und Stahlindustrie. Deshalb schlägt Frankreich seinen amerikanischen und britischen Partnern bereits im Februar 1947 die Gründung einer internationalen Organisation zur Verwaltung der Industrien im Ruhrgebiet und zur Verteilung der Produktion vor. Damit verfolgt Paris sowohl Sicherheits- als auch Wirtschaftsinteressen. Es geht natürlich darum zu verhindern, dass die Ressourcen des Ruhrgebiets zu militärischen Zwecken genutzt werden, wie es der Fall während des Hitlerregimes gewesen war. Gleichzeitig suchen die Franzosen eine Neubildung der großen Konzerne zu verhindern, durch die Deutschland seine grenzenlose industrielle Macht wiedererlangen könnte.
Ungeachtet dieser dringenden Forderungen richten die Briten und die Amerikaner im November 1947 in der Bizone eine deutsche Behörde ein, die mit der Verwaltung der Kohlenbergwerke im Ruhrgebiet betraut wird: die Deutsche Kohlenbergbauleitung (DKBL). Wie zu erwarten macht sich Unzufriedenheit bei den Franzosen breit, und Paris protestiert. Im März 1948 jedoch erhält Frankreich schließlich die Zustimmung der Amerikaner zur Einrichtung einer Kontrollbehörde im Ruhrgebiet – allerdings unter der Bedingung, dass sie zur Umsetzung des Marshallplans dienen wird, in dessen Rahmen das Ruhrgebiet eine zentrale Rolle für die Versorgung der westeuropäischen Wirtschaft spielt. Die Meinungsverschiedenheiten der alliierten Partner bleiben jedoch weiter bestehen. Vor allem, weil die Amerikaner und die Briten nicht akzeptieren wollen, dass Frankreich Deutschland als einzige große Kontinentalmacht ersetzen will, die in der Lage wäre, die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung Westeuropas zu gewährleisten. Am 10. November 1948 erlässt die britisch-amerikanische Militärregierung Behörden in der Bizone eine Verfügung – das Gesetz Nr. 75 – über die Umgestaltung und die Entflechtung des Kohlebergbaues und der Eisen- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet. Frankreich, das sich erneut über eine Politik der vollendeten Tatsachen beklagt, wiederholt, dass es in seinen Augen unmöglich sei, einer zukünftigen deutschen Regierung die Regelung der Eigentumsfrage zu überlassen. Deshalb schlägt es die Einführung einer alliierten Kontrolle für Kohle und Stahl vor.
Nach langem diplomatischen Hin und Her gelangen die Vertreter der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Großbritanniens und der drei Beneluxstaaten im Frühjahr 1949 in London schließlich zu einer Einigung über die zukünftige Politik im Hinblick auf die Organisation Deutschlands. Die Einigung der Sechs sieht unter anderem die Einrichtung einer Internationalen Ruhrbehörde (IRB) zur Kontrolle der Kohle- und Stahlproduktion sowie der Geschäftspraktiken vor, sowie die Einführung von Sicherheitsmaßnahmen durch die drei Westmächte, die Ausarbeitung eines Besatzungsstatuts, das die jeweiligen Befugnisse der Besatzungsbehörde und der künftigen deutschen Bundesregierung regelt, und schließlich die Vorbereitung einer Konstituierenden Versammlung zur Erarbeitung einer Verfassung für Westdeutschland. Diese unterschiedlichen Maßnahmen verfolgen drei Ziele: Gewährleistung der Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands; Unterstützung beim Wiederaufbau der europäischen Staaten; Förderung eines engen Verbundes ihrer Wirtschaftssysteme zur Gewährleistung von Frieden und Wohlstand in Europa.
Am 28. April 1949 unterzeichnen die Vertreter der Sechs das Abkommen von London, das eine Koordinierung der Produktionsaktivitäten des Ruhrgebiets und denen der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) vorsieht. Gleichzeitig unternimmt auch die Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen mitunter Initiativen in den Bereichen, die in Deutschland in die Zuständigkeit der IRB fallen. Die Aufgaben der IRB dienen nicht streng genommen der Sicherheit; diese wird vom Militärischen Sicherheitsamt gewährleistet, das am 17. Januar 1949 zur Überwachung der deutschen Entwaffnung gegründet worden war. Obwohl ihre Befugnisse und finanziellen Mittel sehr beschränkt sind, lassen sich die Aufgaben der Behörde in der Praxis auf zweierlei Weise beschreiben. Unter positiven Gesichtspunkten ist es ihre Aufgabe, die Erzeugnisse des Ruhrgebiets (Kohle, Koks und Stahl) unter den deutschen Verbrauchern und dem Export aufzuteilen. Negativ gesehen soll sie verhindern, dass diskriminierende Praktiken vor allem im Hinblick auf den Transport und die Preise im Bereich des Handels mit Festbrennstoffen und Stahl aus dem Ruhrgebiet der Gleichbehandlung der beteiligten Länder zuwiderlaufen und dass allgemein den ausländischen Interessen im Ruhrgebiet nicht geschadet wird.
Die IRB nimmt ihre Arbeit im September 1949 an ihrem Sitz in Düsseldorf auf. Sie besteht aus einem Rat, an dem die Vertreter der Signatarstaaten und der Besatzungsbehörden beteiligt sind und der die Entscheidungen und die politische Leitung der Organisation gewährleistet, und einem Sekretariat, das unter der Leitung des Belgiers Georges Kaeckenbeeck als ständiges Organ sämtliche Verwaltungstätigkeiten übernimmt. In der Organisation verfügen die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich jeweils über drei, die Beneluxstaaten über eine Stimme. Deutschland ist offiziell durch einen britischen Offizier vertreten. Beschlüsse werden mit einer Mehrheit von acht Stimmen gefasst. Trotz erklärter guter Absichten wird die Arbeit der Behörde sehr schnell blockiert. Obwohl die IRB bisweilen sogar als erster Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Kohle- und Stahlkonsortium dargestellt wird, sind die Sechs nicht selten geteilter Meinung, beispielsweise über die Beziehungen zwischen der IRB und der Alliierten Hohen Kommission (AHK), die entsprechend dem Besatzungsstatut im Frühjahr 1949 zur Überwachung der deutschen Bundesregierung und der Bundesländer eingerichtet worden war, oder über die Bedingungen für den Beitritt Deutschlands zum Vertrag von London.
Die Deutschen sind mehrheitlich gegen diese neue alliierte Organisation, die ihre Handlungsfreiheit in Wahrheit einschränkt und das Land in einem Zustand politischer Unterlegenheit hält. Für viele gehört die IRB zu den alliierten Besatzungsorganen, und sie betrachten sie als verdecktes Kontrollorgan. Sie können nicht akzeptieren, dass Deutschland sich dem Besatzer unterwirft und dass Frankreich von den Reichtümern des Ruhrgebiets profitiert und die Demontage der konkurrierenden Industrien der Region fortführt. Im Zuge des Petersberger Abkommens, das die deutschen Reparationen beendet, erhalten die Deutschen im November 1949 das Recht, Delegierte in die IRB zu entsenden. Ihre Vertretung scheint ihnen jedoch nicht gerecht. Die sozialdemokratische (SPD) und die liberale Partei (FDP) sind besonders ungehalten. Und nach Ansicht Konrad Adenauers, des ehemaligen christdemokratischen Kölner Oberbürgermeisters und zukünftigen Bundeskanzlers, hat die IRB nur eine Existenzberechtigung, wenn sie der mögliche Ausgangspunkt für eine europäische Föderation ist. Er macht sogar die schnelle Ausdehnung der IRB auf andere Industrieregionen Europas, vor allem auf die französischen, belgischen und luxemburgischen Reviere, zur Bedingung für die Anerkennung der Behörde durch Deutschland. Seiner Meinung nach soll die IRB in ein Organ zur kooperativen Bewirtschaftung der wichtigsten Ressourcen Westeuropas umgewandelt werden. Deshalb befürwortet er die Beteiligung ausländischen Kapitals an den deutschen Unternehmen. Und im November 1949 beantragt er die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland (BRD) als Vollmitglied in die Internationale Ruhrbehörde.
Schnell sind viele Beobachter der Ansicht, dass eine europäische Föderation die IRB, deren Abschaffung immer nachdrücklicher von Deutschland gefordert wird, gut ersetzten könnte. Der nachlassende Mangel an Grunderzeugnissen in Westeuropa und die Tatsache, dass die Arbeit der IRB sich teilweise mit der der Hohen Kommission überschneidet, macht ihr Fortbestehen immer problematischer. Zumal die Briten alle wichtigen Fragen an die OEEC überweisen, wo ihre Stimme durch die Einstimmigkeitsregel unverzichtbar ist, während in der IRB, wo jeder Staat durch einen Regierungsvertreter vertreten ist, Beschlüsse mit der Mehrheit der Stimmen gefasst werden. Obwohl Frankreich nicht voll zufrieden mit den Ergebnissen der IRB war, die von den Briten und die Amerikanern beherrscht wurde, kann es ein sofortiges Ende der internationalen Kontrolle über die deutschen Industrieregionen durch die simple Abschaffung der IRB nicht akzeptieren.
Um den deutschen Forderungen gerecht zu werden, verspricht der französische Außenminister Robert Schuman Konrad Adenauer, dass die IRB spätestens bei der Einrichtung des gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl abgeschafft werden wird. In diesem Sinne spielt die IRB trotz ihrer strukturellen Schwäche eine nicht zu vernachlässigende politische Rolle mitten im Kalten Krieg, während des Übergangs vom Besatzungsregime des Nachkriegs-Deutschlands zur europäischen Integration einzelner Wirtschaftszweige. Die französischen Verantwortlichen und insbesondere Jean Monnet im französischen Generalsekretariat für Planwirtschaft suchen nach neuen wirtschaftlichen und politischen Lösungen, um Deutschland im westlichen Lager fest zu verankern. An die Stelle einer Politik, die vor allem auf die wirtschaftliche Schwächung Deutschlands abzielt, tritt nunmehr ein neuer Ansatz, der sich auf die Entwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit konzentriert.
In dem Kontext einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Paris und Bonn ist auch die Tragweite des Schuman-Plans zu betrachten, der im Frühjahr 1950 vorgestellt wird. In diesem Zusammenhang bedeutet die Unterzeichnung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) das Ende der IRB. Die von den Sechs geplante Einrichtung eines gemeinsamen europäischen Marktes für Kohle und Stahl macht die Kontrolle durch die IRB überflüssig, und am 27. Mai 1952 wird diese endgültig eingestellt. Dementsprechend läuft auch das Internationale Ruhrstatut am 21. Dezember 1951 aus, auch wenn der Deutsche Kohlenverkauf (DKV), die einzige Verkaufsorganisation für Ruhrkohle, endgültig erst im Frühjahr 1953 durch ein neues Vertriebssystem über kleinere unabhängige Unternehmen ersetzt wird.