Die christliche Kultur

Die christliche Kultur


Gewisse christdemokratische Kreise befassen sich bereits lange vor dem Krieg mit der europäischen Einheit. Manche führende Vertreter bedauern vor allem das Verschwinden des einheitlichen europäischen Geistes, der im Mittelalter noch zu existieren schien. Andere wiederum setzen sich in den zwanziger und dreißiger Jahren in proeuropäischen Organisationen ein. So mobilisiert beispielsweise der österreichische Intellektuelle und Publizist Richard de Coudenhove-Kalergi, der Gründer der Paneuropa-Union im Jahre 1923, die intellektuelle und politische Elite des Kontinents für das europäische Aufbauwerk. Im Jahr 1930 stellt er den Entwurf eines paneuropäischen Paktes vor und gründet die Paneuropa-Bewegung, in der zahlreiche konservative, liberale und christdemokratische Politiker aus mehreren europäischen Länder vertreten sind. Dieser Vorreiter dient den Föderalisten der Nachkriegszeit als Quelle der Inspiration.


Nach dem Krieg befinden sich die konservativen Kreise im Zwiespalt; während viele Christdemokraten in der Widerstandsbewegung gekämpft hatten, hatten sich einige Katholiken den mächtigen faschistischen Regimes in Italien, Österreich oder in der Slowakei gegenüber äußerst nachsichtig gezeigt. Einige waren sogar in die Kollaboration mit dem deutschen Besatzer verstrickt. Die Kämpfe der Widerstandsbewegung tragen zwar zur Entstehung eines Gefühls der starken europäischen Solidarität und der Besinnung auf die gemeinsamen christlichen Wurzeln der westlichen Kultur gegenüber der nationalsozialistischen Barbarei bei, sie bewirken jedoch nicht, dass für die Zeit nach dem Krieg systematisch die Schaffung einer europaweiten supranationalen politischen Einheit geplant wird.


Die internationale Strategie des Vatikans am Ende des Krieges besteht vor allem in der systematischen Verteidigung der christlichen Kultur gegen den Vormarsch des Kommunismus. Die Katholische Kirche billigt jedoch den europäischen föderalistischen Gedanken unter der Bedingung, dass darüber kein subversives Gedankengut verbreitet wird. Im Jahr 1948 bringt Papst Pius XII., ein Römer mit deutschen Einflüssen, seine Furcht vor dem moralischen und spirituellen Niedergang Europas zum Ausdruck und spricht sich offiziell für die Föderalistische Bewegung aus. Seine Unterstützung für die europäische Sache beruht jedoch unter anderem auf einer Idealisierung des christlichen Mittelalters, wie es die Verherrlichung des Heiligen Benedikt zeigt, der anlässlich seines 1400. Geburtstages im Jahr 1947 zum „Schutzheiligen Europas“ erklärt wird. Pius XII. entsendet zudem einen persönlichen Vertreter zum Europa-Kongress im Mai 1948 in Den Haag. Die Katholiken unterstützen die europäische Vereinigung aus wirtschaftlichen, politischen und militärischen Gründen. Die ländliche katholische Bevölkerung und die Konservativen dagegen haben Vorbehalte gegenüber einem zu schnellen Verzicht auf die staatliche Souveränität. Die wachsende Bedrohung durch die Ausbreitung des Kommunismus bestärkt die Christdemokraten in ihrer Ansicht, dass nur ein geeintes, durch ein Bündnis mit den Amerikanern unterstütztes Europa den sowjetischen Ambitionen trotzen kann. Dieses Anliegen wird durch die proeuropäische Politik christlicher Staatsmänner (R. Schuman, K. Adenauer, A. de Gasperi, P. van Zeeland, J. Luns) bestätigt, was ihren politischen Gegnern Anlass gibt, vom „vatikanischen Europa“ zu sprechen.

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