Der Widerstand und der europäische Gedanke

Der Widerstand und der europäische Gedanke


Die von den Nazis propagierte rassistische „Neue Europäische Ordnung“ hat die Anhänger des europäischen Einigungsprozesses nicht entmutigt. Einige Widerstandsgruppen, die sich ursprünglich von ihren patriotischen Gefühlen hatten leiten lassen, sind im Gegenteil nach und nach dazu gezwungen, in europäischen Dimensionen zu denken. Stärker als je zuvor sind sie von der Notwendigkeit der Schaffung eines demokratischen Europas überzeugt, wie es die Antifaschisten und Föderalisten Altiero Spinelli und Ernesto Rossi in ihrem Manifest für ein freies und geeintes Europa vorschlagen, das sie 1941 auf Ventotene, einer kleinen Insel im Tyrrhenischen Meer verfassen, wo sie unter Hausarrest stehen, und von dort aus im Untergrund verbreiten. In diesem Gründungstext vergleicht Spinelli die Union Europas mit der Bildung eines Staates. Er begreift die europäische Föderation als Pfeiler des Weltfriedens. Im Jahr 1943 gründet Spinelli in Mailand die italienische europäische föderalistische Bewegung (Movimento Federalista Europeo).


Gleichzeitig werden erste offizielle transnationale Kontakte zwischen verschiedenen Widerstandsgruppen geknüpft, die am 20. Mai 1944 in Genf zur Annahme eines Manifests des europäischen Widerstandes führen. In dieser antifaschistischen Erklärung, die vor allem die Handschrift Léon Blums, des Pastors Willem Visser ‘t Hooft und Altiero Spinellis trägt, fordern die Widerstandsbewegungen die Gründung einer Föderation zwischen den europäischen Völkern. Der Text erklärt, dass die Ziele des Widerstandes nur erreicht werden können, wenn alle Länder sich einigen, das Dogma der absoluten Souveränität der Staaten zu überwinden, und die Einbindung in eine föderale Organisation akzeptieren, durch die allein die friedliche Beteiligung des deutschen Volkes am europäischen Leben gewährleistet werden kann. Das Manifest plädiert zudem für die Schaffung einer Regierung, die den Völkern der Mitgliedstaaten der Föderation gegenüber verantwortlich ist, für eine Armee unter dem Kommando dieser Bundesregierung, die jegliche nationale Armee ausschließt, sowie für ein hohes Gericht, das für die Auslegung der Bundesverfassung und die Schlichtung von möglichen Konflikten zwischen den Mitgliedstaaten der Föderation zuständig ist. Die Genfer Erklärung fordert schließlich die Verwirklichung universeller Werte wie der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Achtung der Menschenrechte. Ein provisorischer Ausschuss für die Europäische Föderation wird als Verbindungsbüro eingerichtet. Am 7. Juli 1944 billigen die Teilnehmer an der internationalen Konferenz von Genf einen neuen Entwurf der Erklärung der europäischen Widerstandskämpfer, die im Untergrund verbreitet wird und allgemeine Zustimmung findet.


In London machen sich Intellektuelle und Exilpolitiker ebenfalls Gedanken um ein Nachkriegseuropa und entwerfen diverse Pläne für eine europäische Föderation. Ende 1942 wendet sich das Kriegsgeschehen zu Gunsten der Alliierten. Das deutsche Debakel in Russland und der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im Dezember 1941 gegen die Achsenmächte ändern den Lauf der Ereignisse und stärken das Vertrauen der Alliierten in den Sieg. Die Niederlage der Deutschen vorausahnend, beginnen die Exilregierungen, sich konkreter mit ihrer Zukunft im Rahmen einer neuen Weltordnung nach dem Krieg auseinanderzusetzen. Aber die großen Weltmächte beherrschen die Weltbühne, von der sich die kleinen europäischen Staaten ausgeschlossen fühlen. Sie sind angesichts der amerikanischen Pläne zur Vereinfachung der geopolitischen Karte in Europa ernsthaft besorgt. Diese Pläne sehen unter anderem die Abschaffung der kleinen Länder vor, die als Faktor der Instabilität in der Welt gelten. Amerikanische und britische Finanzexperten prüfen die Möglichkeiten zur Einführung eines neuen internationalen Währungssystems sowie die Wiederbelebung des Welthandels unter anglo-amerikanischer Führung.


Die kleinen Länder, die keinesfalls die Absicht haben, auf ihre Souveränität zu verzichten, intensivieren ihre Kontakte und entwickeln Vorhaben für Abkommen und regionale Gruppierungen, um ihre Interessen in der neuen internationalen Wirtschaft und im Rahmen der UNO besser verteidigen zu können. Der Kampf um die Rechte der kleinen Nationen wird zum Ziel der Außenpolitik dieser Staaten. Im Winter 1942/1943 schlägt der polnische General W. Sikorski den Plan einer Reihe regionaler europäischer Föderationen vor. Gleichzeitig wird eine Wirtschaftsunion aller Atlantikstaaten in Betracht gezogen. Doch die einzige konkrete Umsetzung aus dieser Zeit ist die Schaffung einer Zollunion zwischen Belgien, Luxemburg und den Niederlanden unmittelbar nach dem Krieg. Das Benelux-Währungsübereinkommen wird am 21. Oktober 1943 in London unterzeichnet. Es legt einen festen Wechselkurs zwischen dem belgischen Franc und dem Gulden fest und definiert einen bilateralen Clearing-Mechanismus. Das Übereinkommen zur Zollunion der Benelux-Länder wird am 5. September 1944 unterzeichnet. Es richtet eine Zollgemeinschaft ein und sieht schließlich die Gründung einer Wirtschaftsunion zwischen den drei Staaten vor.

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