Themendossier

Der Beginn der Dekolonisation und die Entstehung der blockfreien Staaten

Die Anfänge der Dekolonisation und die Entstehung der blockfreien Staaten


Der Zweite Weltkrieg erschüttert das Kolonialsystem in seinen Grundfesten. Die Kolonialmächte verlieren ihr einstiges Ansehen, im Krieg sind sie entweder besiegt und besetzt worden, wie die Niederlande, Belgien und Frankreich, oder sie gehen, wie Großbritannien, geschwächt aus dem Konflikt hervor. Die einheimischen Bewohner der Kolonien, die im Krieg oft die alliierten Armeen verstärkt hatten, verspüren das Bedürfnis, sich von den Verbindungen mit dem in Schutt und Asche liegenden Europa zu befreien.


Zudem begünstigen die Entstehung zweier neuer antikolonialer Supermächte, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, sowie das neue internationale Umfeld nach 1945 den Kampf der Kolonien für ihre Unabhängigkeit. Die Charta der Vereinten Nationen beispielsweise bekräftigt „die Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker “. Diesen Grundsatz hatten bereits der amerikanische Präsident Roosevelt und der britische Premierminister Churchill in der Atlantik-Charta festgelegt, die am 14. August 1941 auf der U.S.S. Augusta vor der Küste Neufundlands unterzeichnet worden war. Punkt 3 dieser feierlichen Erklärung der beiden Staatschefs führt den Grundsatz auf, dem zufolge sie „das Recht aller Völker [achten], sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen. Die souveränen Rechte und autonomen Regierungen aller Völker, die ihrer durch Gewalt beraubt wurden, sollen wiederhergestellt werden“.


Die Dekolonisation vollzieht sich in zwei Phasen. Die erste reicht von 1945 bis 1955 und betrifft vor allem die Länder im Nahen und Mittleren Osten sowie in Südostasien. Die zweite Phase beginnt im Jahr 1955 und betrifft im Wesentlichen Nord- und Subsahara-Afrika.


Die kolonisierten Völker Südostasiens zählen zu den Ersten, die den Abzug der Europäer verlangen und ihre Unabhängigkeit fordern. Im Februar 1947 beschließen die Briten, aus Indien abzuziehen, das einige Monate später seine Unabhängigkeit erlangt – nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der hinduistischen und der muslimischen Bevölkerung. Diese führen am 15. August 1947 zur Teilung des Landes in zwei unabhängige Staaten: Indien und Pakistan. Im Jahr 1948 entlässt das Vereinigte Königreich zudem Myanmar und die Insel Ceylon in die Unabhängigkeit, Malaysia dagegen wird erst 1957 unabhängig.


In Indonesien kommt es vier Jahre lang zu einer militärischen und diplomatischen Auseinandersetzung mit den Niederlanden, bevor diese im Dezember 1949 Niederländisch-Indien in die Unabhängigkeit entlassen.


Auch Frankreich ist mit den Unabhängigkeitsbestrebungen seiner Kolonien konfrontiert. Bereits 1946 bricht im fernen Indochina ein blutiger Kolonialkrieg aus, in dem Frankreich militärisch engagiert ist. Acht Jahre nach dem Beginn der Kämpfe endet der Krieg mit einem Sieg der Viet Minh (Liga für die Unabhängigkeit Vietnams) über die französischen Truppen. Mit dem Genfer Indochinaabkommen vom 21. Juli 1954 wird der Konflikt beendet, und Frankreich ist gezwungen, das Land zu verlassen. Vietnam wird zweigeteilt: Nördlich des 17. Breitengrades entsteht die Demokratische Republik Vietnam, südlich davon die Republik Vietnam. Außerdem wird die Unabhängigkeit von Laos und Kambodscha, die 1953 verkündet worden war, endgültig anerkannt.


Eine weitere Welle der Dekolonisation betrifft die Länder des Nahen und Mittleren Ostens (Libanon, Syrien) und des Maghreb (Algerien, Tunesien, Marokko). Während die französischen Protektorate Marokko und Tunesien die Unabhängigkeit im Jahr 1956 auf dem Verhandlungsweg erlangen, ist die Lage in Algerien eine andere: Bereits im Jahr 1945 finden zahlreiche nationalistische und separatistische Demonstrationen im Land statt, die von der französischen Armee blutig niedergeschlagen werden. Die französischen Behörden betrachten Algerien als unveräußerlichen Bestandteil des französischen Staatsgebietes, und erst acht Jahre später, nach einem blutigen Krieg – der mit dem Aufstand von 1954 beginnt und mit der Unterzeichnung des Abkommens von Evian im März 1962 endet –, erlangt das Land seine Unabhängigkeit.


Die Länder Asiens und Afrikas, die erst vor kurzem ihre Unabhängigkeit erlangt haben, weigern sich, sich einer der beiden Supermächte unterzuordnen. Auf einer Konferenz im indonesischen Bandung vom 17. bis 24. April 1955 treffen sich Delegierte aus neunundzwanzig Ländern des afrikanischen und asiatischen Raumes und bekräftigen ihren Wunsch nach Unabhängigkeit und Blockfreiheit gegenüber den Vereinigten Staaten und der UdSSR. Sie lehnen den Kolonialismus ab und ermutigen die noch kolonisierten Völker zum Kampf für ihre Befreiung.


Auf dem afrikanischen Kontinent ist die ehemalige britische Kolonie Ghana der erste Staat des südlichen Afrikas, das am 6. März 1957 seine Unabhängigkeit ausruft. Die Ereignisse überschlagen sich in den französischen Kolonien im südlichen Afrika, und 1960 entstehen fünfzehn neue Staaten: Guinea (bereits 1958), Kamerun, Kongo-Brazzaville, Elfenbeinküste, Dahomey, Gabun, Obervolta, Madagaskar, Mali, Mauretanien, Niger, Zentralafrikanische Republik, Senegal, Tschad und Togo. Am 30. Juni 1960 erklärt der Kongo ebenfalls seine Unabhängigkeit. Die ehemalige belgische Kolonie wird damit zur Demokratischen Republik Kongo.


In Ägypten verkündet Präsident Gamal Abdel Nasser, ein Verfechter des Panarabismus, die Verstaatlichung der Betreibergesellschaft des Sueskanals. Damit greift er die Interessen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und Israels an – die Sueskrise wird zur Kraftprobe, die im Oktober 1956 zu einem gemeinsamen Militäreinsatz der drei Staaten gegen das ehemalige britische Protektorat führt. Trotz der militärischen Niederlage Nassers sind Frankreich und Großbritannien angesichts des wachsenden Drucks durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gezwungen, ihre Truppen zurückzuziehen und das Feld internationalen Eingreiftruppe unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen zu überlassen. Während die Sueskrise die moralische Niederlage und ein diplomatisches Fiasko für die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien bedeutet, stellt Oberst Nasser sich als Verteidiger der arabischen Sache und Verfechter der Dekolonisation dar.


Weniger als zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betritt nach mehreren Wellen der Dekolonisation in Asien und Afrika ein weiterer Akteur die internationale Bühne: die Dritte Welt.

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