Der Plan Jean Monnets

Jean Monnets Plan


Aufgrund seiner langjährigen internationalen Berufserfahrung, der Lehren, die er aus dem Krieg gezogen hatte, und seiner engen Kontakte zu Diplomatie und Handel in den USA – er vertrat unter anderem die französische provisorische Regierung in der European Coal Organisation (ECO) und verhandelte mit den USA über die Vergabe von Mitteln aus dem Marshall-Plan zur Modernisierung Frankreichs – ist Jean Monnet, französischer Generalkommissar für Planwirtschaft, zu der Ansicht gelangt, dass Wohlstand und sozialer Fortschritt unabdingbar mit einer wirtschaftlichen Annäherung zwischen den europäischen Staaten verknüpft sind.


Als Verfasser des ersten Plans für die Infrastrukturen und die Modernisierung Frankreichs nach dem Weltkrieg ist Monnet zudem der Auffassung, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland, vor allem aufgrund seiner zentralen Lage in Europa und seines Industriepotenzials, das bei Kriegsende im Wesentlichen erhalten geblieben war, unverzichtbar ist. Aber angesichts der erheblichen Unterschiede bei Preisen und Löhnen sowie in den Steuersystemen ist es zweifellos noch zu früh, den vollständigen wirtschaftlichen Zusammenschluss auf europäischer Ebene in Angriff zu nehmen. Auch der Öffentlichkeit fehlt offenbar noch die entsprechende Einstellung. Im Übrigen scheitern Ende der 40er Jahre mehrere Vorhaben einer begrenzten Zollunion, die den Beginn einer wirtschaftlichen Integration Westeuropas hätten darstellen können. Daher ist ein besonderes Verfahren erforderlich, das ein schrittweises Vorgehen ermöglicht.


Von da an taucht der Gedanke einer europäischen Industrieunion regelmäßig in der französischen Presse auf und wird in diplomatischen Kreisen offen erörtert. Jean Monnet, der seinerseits ebenfalls eine wirksame Lösung für die deutsch-französischen Spannungen anstrebt und seine Beunruhigung angesichts der Bedrohung durch den Kalten Krieg zum Ausdruck bringt, ist für diese Argumente sehr empfänglich. Er ist der Ansicht, dass ein von oben gesteuertes europäisches System, wie es häufig von den föderalistischen Bewegungen gefordert wird, extrem schwierig einzurichten ist, und zieht daher einen funktionellen Aufbau Europas durch eine weit reichende Integration in Schlüsselbereichen der Wirtschaft vor, um echte Solidarität zwischen den Partnern herzustellen. Aus diesem Grunde denkt er bereits im Frühjahr 1950 an die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes mit dem für die zivile und militärische Industrie wesentlichen Kohle- und Stahlsektor im Mittelpunkt. Sein Plan unterscheidet sich allerdings insofern von den meisten Vorhaben internationaler Zusammenarbeit, die im Kohle- und Stahlbereich angedacht werden, als Jean Monnet die Montanunion generell als einen notwendigen, jedoch nur vorläufigen Schritt in Richtung einer europäischen Föderation betrachtet.


Darüber hinaus kann durch die Internationalisierung der Kohle- und Stahlindustrie die Abschaffung der Kontrolle des Ruhrgebiets durch die Alliierten unbesorgt ins Auge gefasst und der Gefahr der Entstehung von Industriekartellen in den deutschen Industriegebieten Einhalt geboten werden. Vor diesem Hintergrund willigt Frankreich ein, sich nach den gleichen Maßgaben wie Deutschland einer internationalen Kontrolle zu unterziehen, um das reibungslose Funktionieren des gemeinsamen Kohle- und Stahlmarktes zu gewährleisten.


Jean Monnet ist sich wohl bewusst, dass er mit der Unterstützung des US-amerikanischen Hohen Kommissars für Deutschland rechnen kann, der seinerseits eine französisch-deutsche Annäherung befürwortet und hofft, dass Frankreich bald eine Initiative in diesem Sinne ergreifen wird.


Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion


Zwei wesentliche Gründe veranlassen Jean Monnet im Jahr 1950 dazu, die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion anzustreben:


Steinkohle, deren bedeutendsten Lagerstätten sich im Ruhrgebiet befinden, ist der meistgenutzte Brennstoff in den sechs Mitgliedstaaten der künftigen EGKS. Nahezu 70 % des gesamten Energieverbrauchs in den Ländern Westeuropas beruhen in dieser Zeit auf der Steinkohle. Und obwohl die Produktion der sechs EGKS-Mitgliedstaaten und Großbritanniens nur knapp 20 % der Weltkohleproduktion ausmacht, verfügen sie sozusagen über das Monopol der Kohleversorgung in Westeuropa. Das Kohleaufkommen in Osteuropa geht immer mehr zurück. Amerikanische Kohle ist nach wie vor sehr teuer und kann zudem nur in Dollar bezahlt werden, die gerade in Europa knapp sind. Zudem würde die Zusammenlegung der französischen und der deutschen Ressourcen Frankreich, dessen Eisen- und Stahlunternehmen die erforderliche Kohle in großen Mengen importieren, den freien Zugang zu den Kohlevorkommen des Ruhrgebiets selbst im Falle einer Auflösung der Internationalen Ruhrbehörde, der Frankreich angehört, gewährleisten. Mit der Schaffung eines europäischen „Pools“ wird es für Deutschland zwangsläufig unmöglich, seine Kohle zu hohen Preisen zu verkaufen und damit die französische Industrie in Schwierigkeiten zu bringen.


Stahl ist ein Rohstoff für die Rüstungsproduktion und die Industrie im Allgemeinen. Aufgrund der mangelnden wirksamen Koordinierung der Pläne zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas entwickelt jedes Land sein eigenes Eisen- und Stahlpotenzial zur Erzielung einer gewissen Autarkie, was wiederum das Risiko der Überproduktion birgt. Grundlegend fürchtet Frankreich die Beherrschung der deutschen Stahlproduktion durch mächtige Industriekartelle und die Nutzung dieses Stahls für die deutsche Wiederaufrüstung – die schlimmste aller Vorstellungen. Deshalb soll die Zusammenlegung der Eisen- und Stahlproduktion die mögliche Machtentfaltung der Kartelle und die Wiederaufrüstung verhindern. Zudem wäre die Zusammenlegung der Eisen- und Stahlproduktion ein starkes Symbol, das zwangsläufig die Gefahr eines neuen deutsch-französischen Krieg bannt.


Was die künftige Methode angeht, kann Jean Monnet, der 1947 die französische Planwirtschaft begründet hatte, die reibungslose Funktionsweise des Gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl, zu dem auch andere interessierte Länder Zugang haben sollen, nur durch einen gewissen Dirigismus gewährleisten, um die Industriepolitik in Europa einheitlicher zu gestalten. Denn von der Montanunion sind 155 Millionen Verbraucher betroffen.


Die europäischen Organe


Nach Ansicht Jean Monnets bedarf es wirksamer Organe, um den geplanten gemeinsamen Markt zu kontrollieren. Die zusammengelegten Bereiche sollen durch ein unabhängiges Organ bewirtschaftet werden, das für freien Wettbewerb sorgt, die Entstehung von Kartellen verhindert, Diskriminierungen beseitigt, den gleichberechtigten Zugang der Verbraucher zur Produktion sicherstellt sowie Investitionen koordiniert und ausrichtet. Die finanziell unabhängige, supranationale Behörde soll den gemeinsamen Markt dieser Branche in Gang bringen und die Öffnung der Märkte durch flexible Führungs- und Kontrollmaßnahmen ermöglichen. Deshalb soll sie die Möglichkeit haben, als kollektives, aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammengesetztes Organ zu fungieren, und somit die Keimzelle einer europäischen Regierung bilden.

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