Die Parlamentsdebatten und die Ratifizierung der Verträge

Die Parlamentsdebatten und die Ratifizierung der Verträge


Nach der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die französische Nationalversammlung am 30. August 1954 ist die Sorge groß, dass das französische Parlament die europäische Relance erneut zum Halten bringt. Zumal die Aussprachen im Vorfeld über die zukünftigen Verträge zur Gründung Euratoms (vom 6. bis zum 11. Juli 1957) und des Gemeinsamen Marktes (vom 15. bis zum 22. Januar 1957) die Vorbehalte und Prioritäten eines großen Teils der politischen Klasse und der französischen Öffentlichkeit zu Tage treten lassen. Die Verfahren zur Ratifizierung der Verträge ziehen sich von Mai bis Dezember 1957 hin.


Im Ratifizierungsprozess der Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG), die beide am 25. März 1957 in Rom unterzeichnet worden sind, berät der Bundesrat am 3. Mai als erstes in erster Lesung über den Gesetzentwurf zur Ratifizierung der Verträge zur Gründung der EWG und der EAG. Am selben Tag verabschiedet er einstimmig eine Entschließung, mit der er die beiden Verträge gutheißt, formuliert jedoch gleichzeitig eine Reihe kritischer Bemerkungen. Nach einer Beratung im Plenum wird der Gesetzentwurf am 19. Juli einstimmig verabschiedet. Am 5. Juli wird der Text dem Bundestag zur zweiten und dritten Lesung vorgelegt. Am 25. Juni hatte die sozialdemokratische Fraktion nach langer Diskussion beschlossen, dafür zu stimmen, und sichert dem Entwurf somit eine große Mehrheit. Die zweite Lesung wird in einigen Minuten abgeschlossen, die Abstimmung ist nur noch eine reine Formsache. Die dritte Lesung bringt keine neuen Erkenntnisse oder Überraschungen. Die Abstimmung erfolgt per Handzeichen. Nur die Freien Demokraten und der Gesamtdeutsche Block stimmen dagegen. Die Abgeordneten reagieren sehr sensibel auf die Tatsache, dass die Bundesrepublik sich neue Absatzmärkte erschließt, die für den Wiederaufbau ihrer Wirtschaft notwendig sind.


Nachdem die Versammlung der Französischen Union die Verträge am 25. Juni 1957 mit 100 gegen 43 Stimmen akzeptiert hat, prüft die französische Nationalversammlung ihrerseits die Verträge vom 2. bis zum 6. Juli sowie am 9. Juli. Die Aussprachen drehen sich hauptsächlich um die Frage, wie sich die französische Wirtschaft auf den durch den gemeinsamen Markt entstanden neuen Wettbewerb einstellen wird und ob die früher von den Parlamentariern geforderten Garantien Eingang in die Verträge gefunden haben. Aber zum Erstaunen vieler verlaufen die Diskussionen ohne viel Anteilnahme, sodass die Nationalversammlung den EWG-Vertrag am 9. Juli mit 332 gegen 240 Stimmen annimmt. Am 24. Juli stimmt der Rat der Republik mit 219 gegen 68 für das gesamte Vertragswerk. Die Ergebnisse zeigen das Ausmaß der Veränderungen, die seit der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) durch die Nationalversammlung drei Jahre zuvor stattgefunden haben. Allerdings hat sich die wirtschaftliche und politische Lage in der Vierten Republik verschlechtert und die neuen Verträge verheißen Frankreich große Vorteile, sowohl in außenpolitischer Hinsicht, als auch auf wirtschafts-, handels- und energiepolitischer Ebene. Die positive Abstimmung der französischen Abgeordneten ebnet sicher den folgenden Ratifizierungsdebatten den Weg.


Am 23. Juli nimmt der französische Rat der Republik schließlich den Gesetzentwurf mit 219 gegen 68 Stimmen an, was den Weg für die Ratifizierung der Verträge in den anderen nationalen Parlamenten frei macht. In der zweiten Julihälfte berät die italienische Abgeordnetenkammer und schließt die Debatten am 30. Juli mit der Abstimmung von 311 gegen 144 Stimmen und 54 Enthaltungen. Nur die Kommunisten stimmen geschlossen dagegen. Am 9. Oktober ratifiziert der Senat die Verträge. Die italienischen Abgeordneten schenken dem Umfang der positiven wirtschaftlichen Auswirkungen eines Beitritts des Landes zum Gemeinsamen Markt besondere Aufmerksamkeit. Die politischen Verantwortlichen Italiens begrüßen vor allem den Kapitalzufluss für die wenig entwickelten Regionen des Südens und die Erschließung neuer Absatzmärkte für die Agrarerzeugnisse des Landes.


In den drei Benelux-Staaten erhalten die Verträge wie erwartet die massive Unterstützung der Parlamente. Die zweite Kammer der Generalstaaten der Niederlande berät vom 1. bis zum 4. Oktober über die Verträge. Ungeachtet der Kritik an der zu wenig ausgeprägten Supranationalität der Gemeinschaften verabschiedet sie am 4. Oktober die Gesetzentwürfe zur EWG und Euratom mit 115 gegen 12 Stimmen. Nur einige Abgeordnete aus den Reihen der Kommunisten und einiger religiöser Parteien stimmen dagegen. Die erste Kammer der Generalstaaten berät ihrerseits am 3. und 4. Dezember über die Verträge und stimmt mit 46 gegen 5 Stimmen für den EWG-Vertrag, während sie den Euratom-Vertrag ohne Abstimmung akzeptiert.


Nach langen Beratungen über die Verträge ratifiziert das belgische Parlament sie innerhalb einiger Tage. Am 19. November verabschiedet das Abgeordnetenhaus die Gesetzentwürfe zur Ratifizierung des EWG- und des Euratom-Vertrags mit 174 gegen 4 Stimmen und zwei Enthaltungen. Die christlich-sozialen und sozialistischen Parteien stimmen geschlossen dafür. Am 28. November ratifiziert der Senat seinerseits die Römischen Verträge mit 134 gegen 2 Stimmen und 2 Enthaltungen.


Währenddessen berät die luxemburgische Abgeordnetenkammer am 19., 20. und 26. November über die Verträge. Am 26. November werden die Verträge sowie das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften mit einer Mehrheit von 46 Stimmen der christlich-sozialen, der sozialistischen und der liberalen Abgeordneten gegen die drei Stimmen der Kommunisten verabschiedet.


Die Ratifizierungsinstrumente der Verträge zur Gründung der EWG und Euratoms und die beigefügten Dokumente werden zwischen dem 23. November und dem 13. Dezember 1957 in Rom hinterlegt. Somit können die Verträge zur Gründung der EWG und Euratoms am 1. Januar 1958 in Kraft treten.

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